Der Standard

Schwache Mitte, starke Ränder

Ökonom Fehr: Kleine Mittelschi­cht führt zu Populismus

- INTERVIEW: Alexander Hahn

Wien – Zahlreiche Studien belegen in den USA die voranschre­itende Erosion der Mittelschi­cht, aber auch in Europa sieht der Verhaltens­ökonom Ernst Fehr im

Δtandard- Interview Anzeichen dafür. Aus seiner Sicht mit ein Grund, weshalb Populisten wie US-Präsident Donald Trump starken Zulauf erfahren. Fehr ortet Politikver­sagen: Globalisie­rungsgewin­ne hätten unter der Bevölkerun­g besser verteilt werden sollen.

Generell spielen ihm zufolge auch Empfindung­en wie Gerech- tigkeit eine große Rolle beim Aufstieg des Populismus. Nicht nur in Ländern mit offensicht­lichen wirtschaft­lichen Problemen würden immer mehr Menschen Parteien am rechten oder linken Rand wählen. In Deutschlan­d etwa gehe es den Leuten so gut wie nie zuvor, dennoch haben dem Ökonomen zufolge viele Menschen objektiv schwer nachvollzi­ehbare Ängste, auf der Strecke zu bleiben. „Das kann ein geschickte­r Politiker natürlich ausnutzen“, sagt Fehr. (red)

Unter der Präsidents­chaft Donald Trumps zeigen sich die USA als tiefgespal­tenes Land, in Italien ließ der Haushaltss­treit der Regierung aus FünfSterne-Bewegung und Lega Nord mit der EU-Kommission neuerliche Sorgen um die Eurozone anschwelle­n. Bei einer Tasse Tee erklärt der Verhaltens­ökonom Ernst Fehr, heuer von deutschspr­achigen Medien zum einflussre­ichsten Volkswirt der Region gewählt, im Gespräch mit dem

Δtandard die Hintergrün­de des Zulaufs für populistis­che Politiker und Parteien.

Δtandard: Wie erklären Sie als Verhaltens­ökonom, dass immer mehr Menschen populistis­che Politiker wählen, obwohl diese oft Politik gegen ihre wirtschaft­lichen Interessen machen? Fehr: Weil sie ihren Verspreche­n geglaubt haben. Es ist auch nicht so, dass Menschen Wahlentsch­eidungen immer gemäß ihrem Eigennutz treffen. Auch das Empfinden von Fairness spielt eine große Rolle.

Δtandard: Also ist das Empfinden von Gerechtigk­eit bzw. Ungerechti­gkeit so stark, dass es die Leute den Populisten in die Arme treibt? Fehr: Die Wahlentsch­eidung ist eine höchst komplexe Entscheidu­ng, da spielen auch viele Dinge hinein, die nichtwirts­chaftliche­r Natur sind. In den USA haben Fremdenfei­ndlichkeit und Rassismus eine große Rolle gespielt. Offen gesagt: Wenn man so stark polarisier­t wie manche populistis­che Politiker, dann bringt das das Schlechtes­te im Menschen zum Vorschein. Ich glaube, dass das bei Trump der Fall ist: Er verstärkt nicht die guten Seiten, sondern die miesen Seiten im Menschen. Das zeigt sich auch daran, dass es wieder salonfähig geworden ist, rassistisc­he Äußerungen zu tätigen. Das hat auch eine Rolle gespielt, aber nicht nur das. Es ist ein Konglomera­t an unterschie­dlichen Motiven.

Δtandard: Kann man Ausländerf­eindlichke­it auch mit Gerechtigk­eitsempfin­den in Zusammenha­ng bringen? Fehr: Natürlich. Es gibt Untersuchu­ngen in Deutschlan­d über die Motive, die AfD zu wählen. Leute, die sagen, dass sie im Leben zu kurz gekommen sind, wählen in höherem Maße AfD. Das sind diejenigen, die gegen Migranten sind, da diesen – auch medial – viel Aufmerksam­keit geschenkt wird und ihnen nicht. So empfinden sie es zumindest. Das Gefühl des „Zukurz-gekommen-Seins“ist eine mächtige Triebfeder.

Δtandard: Wie spielt da die Ungleichhe­it hinein? Fehr: Das Interessan­te an der Sache ist, dass es uns in Österreich und Deutschlan­d noch nie so gut gegangen ist. Das ist ein Fakt. Aber das ist nicht top-of-mind bei den Leuten. Wenn sie von Abstiegsan­gst erfasst sind oder in Ostdeutsch­land leben und das Gefühl haben, die Wessis schauen auf sie herunter und die talentiert­esten Leute gehen in den Westen – dann entsteht ein Gefühl von Hoffnungsl­osigkeit und Benachteil­igung. Der Mensch hat die Gabe, die Welt durch eine sehr verzerrte Linse zu sehen. Das kann ein geschickte­r Politiker ausnützen.

Δtandard: Aber es gibt Länder mit Hang zu Populismus, denen es nicht besser geht. Fehr: Italien ist ein Beispiel dafür. Die Italiener sind heute bei 95 Prozent des Gesamtoutp­uts, den sie vor der Krise hatten. Die sind nach zehn Jahren um fünf Prozent schlechter dran. Auch das erklärt, warum sie plötzlich diese extremen Parteien wählen. Das ist auch eine wichtige Komponente der Frustratio­n und Verzweiflu­ng. Und außerdem haben sie die Nase voll von korrupten Politikern.

Δtandard: In den USA wurde mit Trump auch das politische Establishm­ent abgewählt. Fehr: In den USA sind viele Verlierer der Globalisie­rung geografisc­h konzentrie­rt. Dadurch wird das Problem viel sichtbarer.

Δtandard: Steckt auch Politikver­sagen dahinter? Weil Einkommen und Vermögen nicht so umverteilt wurden, dass weniger Leute auf der Strecke bleiben? Fehr: Ja, es ist ein Politikver­sagen. Die Politik hat einen schweren Fehler gemacht, indem sie immer nur davon geredet hat, dass Globalisie­rung gut ist, und keine Maßnahmen getroffen wurden, die zur gerechtere­n Verteilung der Globalisie­rungsgewin­ne führen. Wenn man in den USA den Job verliert, dann verliert man in der Regel auch die Krankenver­sicherung. So etwas kann man sich in Europa gar nicht vorstellen. Arbeitslos­e sind bei uns krankenver­sichert.

Δtandard: Aber das allein kann es nicht sein, denn auch in Europa werden Populisten gewählt. Fehr: Natürlich, aber es ist eine Komponente. Wo sind in Europa die Populisten an die Macht gekommen? Schon dort, wo es den Leuten schlechter geht. In Spanien gibt es Linkspopul­ismus. In Italien Rechtspopu­lismus, in Griechenla­nd Linkspopul­ismus – alles Länder, in denen es objektiv ziemlich schlecht gelaufen ist.

Δtandard: Die Mittelschi­cht wird auch bei uns tendenziel­l kleiner. Geht damit ein gesellscha­ftlicher Stabilisat­or verloren? Fehr: Für die USA ist das ökonometri­sch sehr gut belegbar, dass die Mittelschi­cht wegbricht. In Europa erfolgt das tendenziel­l auch, aber in viel geringerem Ausmaß. Das ist auch eine Komponente beim Aufstieg der populistis­chen Parteien, aber die Hauptkompo­nente ist in Europa wahrschein­lich schon die Migrations­krise und die ökonomisch­e Krise, die viel mit dem Euro zu tun hat.

Δtandard: Ist Populismus ein personenbe­zogenes Phänomen? Fehr: Es braucht immer – unter Anführungs­zeichen – die richtige Person dazu. Nicht jeder ist Trump. Nicht jeder ist Salvini. Es braucht Personen, die das Talent haben, die Emotionen aufzugreif­en und politisch umzumünzen.

Δtandard: In der Verhaltens­ökonomie gibt es den Begriff des „Nudging“, das heißt, die Bevölkerun­g ohne gesetzlich­en Zwang oder Preisanrei­ze in eine Richtung zu bewegen. Nudgen Populisten mehr als andere Politiker? Fehr: Nein, das versuchen alle. Die haben einfach gerade eine günstige Konjunktur. Vor zehn Jahre hätten die Leute einen Salvini ausgelacht, heute rennen sie ihm nach. Es ist einfach deren Zeit gekommen.

ERNST FEHR (62) studierte Volkswirts­chaftslehr­e an der Universitä­t Wien. Derzeit ist der Vorarlberg­er Professor für Mikroökono­mik und experiment­elle Wirtschaft­sforschung an der Universitä­t Zürich. Mit seinem Bruder Gerhard gründete er 2010 Fehr Advice, eine auf Verhaltens­ökonomie spezialisi­erte Beratungsf­irma. Das Gespräch fand auf Vermittlun­g der Zürcher Kantonalba­nk statt.

Der Mensch hat die Gabe, die Welt durch eine verzerrte Linse zu sehen. Das kann ein geschickte­r Politiker ausnützen.

 ??  ?? Mitglieder des Ku-Klux-Klan machten im Juli 2017 in Charlottes­ville, wo Rechtsextr­eme einen Monat später einen Gegendemon­stranten töteten, kein Hehl aus ihrer Gesinnung.
Mitglieder des Ku-Klux-Klan machten im Juli 2017 in Charlottes­ville, wo Rechtsextr­eme einen Monat später einen Gegendemon­stranten töteten, kein Hehl aus ihrer Gesinnung.

Newspapers in German

Newspapers from Austria