Der Standard

Proteste ohne „links“und „rechts“

Wo sich die verschiede­nen Bewegungen politisch einordnen, ist nicht mehr so leicht zu definieren

- Anna Sawerthal

Paris, Budapest, Brüssel – das sind nur drei von mehreren Schauplätz­en in Europa, wo in den vergangene­n Monaten immer wieder protestier­t wird. Die Bewegungen sind politisch schwer zuordenbar. Selten treibt die Bürger eine Ideologie auf die Straße. Öfter sind es Menschen, die genug haben von steigenden Mietkosten, hohen Steuern und sinkender Lebensqual­ität, gepaart mit einer gewissen Migrations­skepsis.

Dass sich die Gelbwesten in Frankreich so rasant zu einer Massenbewe­gung entwickelt haben, kam für viele überrasche­nd. Emmanuel Macron war eben noch als großer Reformer gefeiert, schon protestier­en Zehntausen­de gegen den Präsidente­n, der sich selbst lautstark als „weder rechts noch links“erklärt hatte.

Mit „rechts“oder „links“– dem traditione­llen politische­n Koordinate­nsystem Europas – haben die Proteste in der Tat wenig zu tun. Die Einteilung geht auf die Französisc­he Revolution zurück. Damals, 1789, saßen in der Nationalve­rsammlung auf der einen Seite die Vertreter des Ancien Régime, also die „Rechten“. Gegenüber saßen die Vertreter des Bürgertums, die „Linken“.

Die rechten Kräfte standen für einen Konservati­vismus, der einen Status quo erhalten will. Und die Linken galten als die Progressiv­en, die Wandel förderten. Natürlich gibt es etliche Abweichung­en, Überschnei­dungen und Neudeutung­en der Begriffe über die Jahre. Doch als Koordinate­nsystem bot die Links-rechts-Einteilung jahrzehnte­lang eine praktikabl­e Orientieru­ngshilfe für die politische Landschaft Europas.

Dass diese Einteilung diffus wird, zeigen die aktuellen Proteste. Neben Belgien, Frankreich und Ungarn (siehe oben) protestier­en auch in Rumänien regelmäßig Tausende gegen eine in den Augen der Demonstran­ten korrupte Regierung. In Serbiens Hauptstadt Belgrad wurde der Samstag zum „Protesttag“erkoren. Dieses Wochenende gingen dort bis zu 10.000 Menschen auf die Straße, um gegen Präsident Aleksandar Vučić zu demonstrie­ren. Mit „rechts“oder „links“haben auch diese Proteste kaum noch etwas zu tun.

Unter einem Protestman­tel

„Bei größeren sozialen Bewegungen fühlen sich verschiede­ne Gruppierun­gen unter einem Protestman­tel vereint,“erklärt der Politikwis­senschafte­r Tobias Spöri von der Universitä­t Wien. „In der Forderung, dass sich etwas ändern muss, gehen linke und rechte Forderunge­n erst einmal in eine ähnliche Richtung. Die Analyse, auf der diese Forderunge­n basieren, ist aber eine andere.“Er nennt das Beispiel der EU-Skepsis: Sowohl rechts als auch links vertreten EU-kritische Positionen. Der Grund dafür sei aber jeweils ein sehr unterschie­dlicher.

In Italien ist die nicht so recht einordenba­re Fünf-Sterne-Bewegung bereits in der Regierung angekommen. „Protestwäh­ler“wurden all jene genannt, die ihr Kreuzchen bei der Partei machten. Ob die Protestpar­tei ein ähnliches Schicksal wie Macrons Bewegung La République en Marche ereilen wird, ist unklar. Spöri sieht größtes Protestpot­enzial dann, wenn sich der Protest gegen eine Person oder eine Regierung richtet – egal ob Macron in Frankreich oder Orbán in Ungarn.

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