„Ohne Einwanderer mehr Überstunden“
Das neue Arbeitszeitgesetz in Ungarn sei eine direkte Folge der Antimigrationspolitik von Premier Viktor Orbán, sagt der Journalist und Publizist András Stumpf. Kann aus den Protesten eine Massenbewegung werden?
Es ist nicht zum ersten Mal, dass in Ungarn tausende Menschen gegen Viktor Orbán und seine Fidesz auf die Straße gehen. Eine wirkliche Massenbewegung ist daraus nie entstanden. Der konservative Journalist András Stumpf hat lange Zeit für ein Pro-Fidesz-Blatt gearbeitet. Wie schätzt er die Situation ein?
Δtandard: Entsteht momentan eine ernstzunehmende Protestbewegung in Ungarn, oder werden die Aktionen bald wieder abflauen so wie in der Vergangenheit?
Stumpf: Wir werden sehen. Einige Dinge sind diesmal anders. Zunächst haben die Oppositionsparteien erstmals realisiert, dass sie derart von der Regierung ins Eck gedrängt werden, dass sie sich etwas Besonderes einfallen lassen müssen, wenn sie in der Öffentlichkeit noch gesehen und gehört werden wollen. Am vergangenen Mittwoch haben daher die Oppositionsparteien mit Protestaktionen im Parlament begonnen: Sie haben Pfeifen eingesetzt, waren laut, haben den Aufgang zum Parlamentspräsidium blockiert, um eine Abstimmung zu verhindern.
Δtandard: Was vergebens war. Das neue Arbeitszeitgesetz, wo- gegen sie demonstriert haben, wurde beschlossen.
Stumpf: Ja, aber die Opposition hat es geschafft, Aufmerksamkeit zu erregen, und das hat die Proteste entfacht. Neu ist aber auch, dass die ungarischen Gewerkschaften geschlossen gegen das neue Arbeitszeitgesetz sind und zu Protesten mitaufrufen. Die Gewerkschaften in Ungarn sind schwach: Gerade ein Fünftel der Bürger ist organisiert. Zudem waren die Verbände immer zerstritten. Sie haben bisher gegenüber der Regierung in keiner Sache mit einer Stimme gesprochen. Bis jetzt. Gewerkschaften, Zivilgesellschaft und Opposition gehen gemeinsam auf die Straße. Das hat es in der Zeit unter Orbán nie gegeben.
Δtandard: Auslöser des Zorns ist ein neues Arbeitszeitgesetz, das die Überstunden neu regelt. Was regt die Menschen daran derart auf?
Stumpf: Bisher waren 250 Überstunden im Jahr erlaubt, das neue Gesetz ermöglicht 400. Der Arbeitgeber hat bisher die Überstunden innerhalb einer Jahresfrist auszahlen müssen, nun wurde diese Frist auf vier Jahre verlängert. Wegen dieser Bestimmungen sprechen die Demonstranten von einem „Sklavengesetz“. Dass dies not- wendig wurde, liegt daran, dass in Ungarn Arbeitskräfte fehlen. Die Regierung sagt seit Jahren: Wir wollen keine Migranten. Was sie nicht dazugesagt hat, war, dass wir ohne Einwanderer die Arbeitszeit erhöhen und mehr Überstunden machen müssen. Genau das geschieht jetzt: Die 400-Überstunden-Regel bedeutet de facto die Einführung einer Sechs-Tage-Woche. Den Zorn zusätzlich angefacht hat, dass niemand über das neue Gesetz im Vorfeld informiert wurde. Mit den Gewerkschaften wurde zwar verhandelt. Diese Gespräche wurden dann aber abgebrochen. Die deutschen Konzerne in Ungarn und vor allem aber die ungarischen Unternehmen selbst haben das neue Arbeitszeitgesetz gewünscht und bekommen.
Δtandard: Ein Großteil der Öffentlichkeit ist passiv. Selbst viele, die Orbán ablehnen, machen ihrem Ärger kaum Luft, gehen nicht auf die Straße. Woran liegt das: Haben die Menschen Angst um ihre Jobs, ist es Gleichgültigkeit? Stumpf: Es ist eine Mischung aus Angst und Gemütlichkeit. Man muss dazusagen, dass die ungarische Wirtschaft derzeit ordentlich läuft: Die Löhne steigen um vier bis fünf Prozent, das Land ist sicher. Viele denken, dass es für sie selbst riskant wäre, das aufs Spiel zu setzen und auf die Straße zu gehen. Zumal unklar ist, was die Alternative sein kann: Die ungarische Opposition besteht aus einigen wenigen fähigen Persönlichkeiten, ansonsten aber sehr vielen völlig untalentierten Personen. Die Opposition hat keine konkreten Vorschläge für eine alternative Politik, und bis jetzt war sie heillos zerstritten. Immerhin Letzteres scheint sich zu ändern.
Δtandard: Oppositionelle Parlamentsabgeordnete wurden Sonntagnacht daran gehindert, im staatlichen Fernsehen eine Petition zu verlesen. Das sorgte für enorme öffentliche Aufregung. Warum?
Stumpf: Protestmärsche zu den öffentlich-rechtlichen Sendern haben Tradition in Ungarn. 1956 haben sich die Menschen vor der Zentrale des Radios versammelt. 2006, als es Massenproteste gegen den sozialistischen Premier Fe- renc Gyurcsány gab, sind die Demonstranten vor die TV-Zentrale gezogen. Auch damals wurde die Verlesung einer Petition verlangt. Als die damalige Rundfunkleitung dies verhinderte, eskalierte die Situation.
Δtandard: Das heißt, der Marsch zum TV hat Symbolcharakter?
Stumpf: Nicht nur. Ungarns Opposition kämpft konkret damit, dass sie keine Möglichkeit hat, in den staatlichen Medien vorzukommen. Im Rahmen der Demo am Sonntag haben ein paar Abgeordnete von ihrem Recht Gebrauch gemacht, die staatliche Fernsehzentrale in Budapest zu betreten. Parlamentsabgeordnete haben in Ungarn ein Recht dazu. Die Abgeordneten wurden vom Wachpersonal rausgeschmissen. Das hat es in der ungarischen Demokratie noch nie gegeben.
ANDRÁS STUMPF ist Journalist und hat lange für die Wochenzeitung „Heti Válasz“geschrieben, die als regierungsnah und rechtskonservativ galt. Die Zeitschrift wurde nach und nach kritischer – bis sie von der Regierung zugesperrt wurde. Er ist regelmäßiger Politkommentator im TV. Heute betreibt Stumpf mit ein paar Kollegen die regierungskritische Website „valszonline“.