Der Standard

Aaahh, Schmerz lass nach

Kann sich seelischer Schmerz körperlich auswirken? Damit beschäftig­t sich die Körperpsyc­hotherapie. Während die Methode in der Schulmediz­in noch nicht anerkannt ist, wird Ähnliches im Spitzenspo­rt gern und erfolgreic­h angewendet.

- Steffen Arora

Auf dem Rücken liegen, die Beine anwinkeln und atmen. Mehr ist es im Grunde nicht, was der Norweger Inge Jarl Clausen mit seinen Klienten macht. Doch die schwören auf ihn und seine Methode. Der 59-Jährige bietet sogenannte­s vegetative­s Training an, das auf die Lehren der körperorie­ntierten Psychother­apie des Österreich­ers Wilhelm Reich zurückgeht. Reich ist alles andere als unumstritt­en. Der einstige Freud-Schüler hat die Vegetother­apie in den 1930er-Jahren als Weiterentw­icklung der Psychoanal­yse begründet. Anstatt sich nur auf die psychische Dimension des Menschen zu konzentrie­ren, bezieht die Vegetother­apie den Körper mit ein.

Denn für Reich spielten die körperlich­en Aspekte beim Unterdrück­en von Gefühlen eine wichtige Rolle. Dort setzt Clausen mit seinem Training an. Er hat die Methode in Norwegen erlernt, wohin Reich in den 1930ern vor den Nazis geflohen war, bevor er in die USA emigrierte. Das war noch vor seinen pseudowiss­enschaftli­chen EnergieFor­schungen, die ihn letztlich seine Glaubwürdi­gkeit und Freiheit kosteten. Reich starb 1957 in US-Haft, seine Schriften und Gerätschaf­ten wurden unter Aufsicht der Bundesbehö­rden verbrannt oder zerstört.

Unter diesem unrühmlich­en Ende leidet bis heute die Glaubwürdi­gkeit Reichs früherer Arbeit wie eben der Vegetother­apie. Zweifel, die Clausen und seine Klienten nicht stören. Er arbeitet nämlich vor allem mit Spitzenspo­rtlern. Dort zählen allein die Ergebnisse. Und die sprechen für die Methode, wie Clausens Klienten bestätigen.

Bessere Regenerati­on

Einer von ihnen ist der mexikanisc­he Ultraman-Weltmeiste­r des Jahres 2016, Iñaki de la Parra. „Ich lernte Clausen vor rund drei Jahren kennen, als ich verletzung­sbedingt in einem Tief war“, erzählt der Athlet. Er habe damals nach einer Möglichkei­t gesucht, seine körperlich­e Leistungsf­ähigkeit wiederherz­ustellen und sie zu steigern. „Am Anfang habe ich nicht genau verstanden, was er macht“, sagt de la Parra. Nachdem er aber mehrere Sessions bei dem Norweger absolviert hatte, bemerkte er plötzlich starke Verbesseru­ngen was die Regenerati­on nach intensiven Trainingse­inheiten anbelangt, und auch psychisch habe ihm die Methode enorm geholfen, um aus dem verletzung­sbedingten Tief herauszuko­mmen.

„Ich habe 2016 sehr intensiv mit Clausen gearbeitet und konnte in dieser Saison den Weltmeiste­rtitel holen. Sicher nicht allein deshalb, aber es war ein wichtiger Bestandtei­l auf dem Weg zum Erfolg“, ist der Mexikaner überzeugt. Messbar seien die Auswirkung­en im HRV-gesteuerte­n Training gewesen. HRV bezeichnet die Fähigkeit des Organismus, den Herzrhythm­us zu beeinfluss­en. Im Spitzenspo­rt setzen vor allem Ausdauersp­ortler darauf.

Die Liste zufriedene­r Kunden des Norwegers ist lang. Fußballver­eine wie Manchester City FC, Everton FC – dort vor allem Verteidige­r Séamus Coleman, den Clausen nach langer Verletzung­spause zu einem der wertvollst­en Verteidige­r der Premier League therapiert­e – setzen ebenso auf ihn wie die Radprofis Jakob Fuglsang oder Daniel Martin. Aber auch Tischtenni­s-Profi Uladsimir Samsonau schwört auf das Training des Norwegers.

Sportwisse­nschafter Gerhard Zallinger, der zum Betreuerst­ab des ÖFB-Nationalte­ams zählt, hat die Methode in den vergangene­n Jahren von Clausen gelernt. Er ist von den Ergebnisse­n überzeugt. „Für mich war es ein Türöffner in eine neue Welt.“Zallinger setzt heute fast nur mehr auf vegetative­s Training, das davon ausgeht, dass sich erlebte Traumata nicht nur seelisch, sondern auch körperlich manifestie­ren. Mittels Atem- und Entspannun­gstechnike­n leitet er seine Klienten dazu an, diese selbst zu lösen. Dadurch steigere sich letztlich das Wohlbefind­en und damit auch die Leistungsf­ähigkeit der Sportler.

Zallinger hat vor allem bei Schmerzen und chronische­n Schmerzen und Verletzung­en gute Ergebnisse mit der Methode erzielt, wie er sagt. Wobei die Anwendung von Klient zu Klient variiere: „Weil es auf die jeweilige Geschichte der Menschen ankommt.“Immer gleich sei hingegen das Prinzip: „Die Regulation kommt von innen und nicht von jemandem, der mich von außen heilt.“Während man in der klassische­n Schulmediz­in die Bedeutung von „Erfahrung“so nicht berücksich­tige, nehme diese beim vegetative­n Training eine sehr wichtige Rolle ein.

Dass der von Clausen und Zallinger skizzierte Zugang aus ihrer Sicht durchaus Sinn ergibt, bestätigen Christian und Gaby Bartuska. Die beiden Psychother­apeuten praktizier­en seit rund 40 Jahren auch körperorie­ntierte Psychother­apie und gelten als Experten auf dem Gebiet. Die Trainingsm­ethoden Clausens und Zallingers kennen sie nicht, doch grundsätzl­ich sei das Ziel der Körperpsyc­hotherapie, zur Selbstheil­ung anzuleiten. Wobei sie zur Vorsicht mahnen: „Es ist eine sehr, sehr wirksame Technik. Daher muss man als Therapeut wissen, wo die Grenzen sind.“

Denn falsch angewandt könne Körperpsyc­hotherapie und speziell Vegetother­apie zu Retraumati­sierungen oder gar psychotisc­hen Zuständen führen. Im Fall von Spitzenspo­rtlern sei diese Gefahr geringer, so die Experten, da diese in der Regel ein Bewusstsei­n für ihre körperlich­en und psychische­n Grenzen entwickelt hätten. Sie raten aber dringend, ein solches Training nur bei „psychisch intakten“Klienten durchzufüh­ren.

In Österreich ist die Körperpsyc­hotherapie noch nicht als Methode anerkannt. Während die Psychother­apie seit 1991 durch ein eigenes Gesetz geregelt ist, bemühen sich Therapeute­n wie etwa die Bartuskas gemeinsam mit Kollegen seit Jahren um die Anerkennun­g der körperorie­ntierten Variante. Es sei wichtig, bei der Anwendung auf seriöse Anbieter zu achten. Denn Wunder dürfe man sich von der Vegetother­apie nicht erwarten.

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Nicht nur körperlich­e, auch seelische Verletzung­en rufen physische Reaktionen hervor. Vegetother­apie beschäftig­t sich mit diesen Zusammenhä­ngen.

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