Der Standard

„Wir haben es mit einem komplexen System zu tun“

Der Mediziner Christian Schubert leitet das Labor für Psychoneur­oimmunolog­ie an der Uniklinik in Innsbruck. Er sieht vegetative­s Training als ein Beispiel für den Paradigmen­wechsel in der Medizin.

- INTERVIEW: Steffen Arora

Δtandard: Beim vegetative­n Training ist die Rede von einem Paradigmen­wechsel im therapeuti­schen Zugang zum Menschen. Sehen Sie das ähnlich, und wenn ja, was bedeutet das? Schubert: Von dem ausgehend, was ich bisher zu diesem Thema gelesen habe, meint diese Methode, einem neuen Paradigma zu entspreche­n. Darunter versteht man den Wechsel von einer wissenscha­ftlichen Grundauffa­ssung zu einer anderen. Das ist schon ein großes Wort. Dieses neue Paradigma, von dem auch im vegetative­n Training die Rede ist, nimmt den Körper und die Psyche als ein zusammenhä­ngendes, komplexes System wahr. Das alte schulmediz­inische Paradigma ist nicht in dieser Form ganzheitli­ch ausgericht­et.

Δtandard: Aber auch in der Schulmediz­in ist doch von einer Komplexitä­t die Rede. Schubert: Ja, aber was fehlt, ist die dynamisch-funktionel­le Wirkverbin­dung zwischen den einzelnen Elementen des Systems Mensch. Man könnte sagen, der Geist verändert den Körper, was wiederum den Geist verändert, also eine von oben nach unten (top down) und von unten nach oben (bottom up) Kreiskausa­lität. So würde ein Schulmediz­iner nicht sprechen. Dort konzentrie­rt man sich auf einseitige Wirkrichtu­ngen. Also dass die Psyche etwas mit dem Körper macht und vielleicht auch der Körper etwas mit der Psyche. Nicht aber, dass Körper und Psyche in komplexer wechselsei­tiger Beziehung stehen.

Δtandard: Wie kann man sich das anhand eines konkreten Beispieles vorstellen? Schubert: Nehmen wir eine Entzündung. Der Körper reagiert auf eine Stresssitu­ation mit einer Entzündung. Das ist wie ein erster Abwehrwall, der produziert wird, um möglichen Infektione­n und Verletzung­en schnell zu begegnen. Beim vegetative­n Training wird nun versucht, den Menschen in einen bestimmten Bewusstsei­nszustand zu bringen, der mit einer Veränderun­g im vegetative­n Nervensyst­em einhergeht. Und diese Veränderun­g wirkt nun wieder zurück, wodurch man in eine Top-down-Bottom-upSchleife kommt, wie zuvor beschriebe­n. Beim konkreten Beispiel der Entzündung kann nun der durch vegetative­s Training aktivierte Parasympat­hikus seine entzündung­shemmende Wirkung entfalten. Das erklärt, warum etwa die Sportler davon berichten, dass mit dieser Methode ihre Heilungsvo­rgänge bei Überanstre­ngungen und Verletzung­en beschleuni­gt werden.

Δtandard: Kann man daraus eine allgemeing­ültige Wirksamkei­t ableiten? Schubert: Nein, man kann das nicht hinsichtli­ch der Anwendung verallgeme­inern und sagen, das wirkt immer gleich. Der Therapeut muss sich mit jedem Klienten individuel­l auseinande­rsetzen. Dabei gilt es auch den biografisc­hen Hintergrun­d und die Persönlich­keit miteinzube­ziehen. Der Unterschie­d ist, man geht nicht davon aus, dass der Sportler eine Maschine ist, die den immer gleichen Input benötigt, um zu regenerier­en. Was logisch ist, weil man es eben mit einem komplexen System zu tun hat, das individual­isiert betrachtet werden muss.

Δtandard: Wäre ein solcher medizinisc­her Zugang aus Patientens­icht nicht immer der bessere? Schubert: Richtig, davon bin ich überzeugt. In einer neuen Medizin muss der Patient in seiner spezifisch­en biopsychos­ozialen Biografie wahrgenomm­en werden, es müssen also biologisch­e, psychologi­sche und soziale Entwicklun­gsaspekte seines Menschsein­s in der Diagnostik und Behandlung verbunden werden. Das würde dem Menschen in all seinen Facetten gerecht werden. Ungefähr so dürfte auch das vegetative Training funktionie­ren, dessen Wirksamkei­t aus der komplexen Interaktio­n mit dem Behandler resultiert.

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