Der Standard

Proteste in Europa jenseits von links und rechts

Aus mehreren Hauptstädt­en Europas werden dieser Tage teils gewaltsame Demonstrat­ionen gemeldet. Häufig gehen sie von Bewegungen aus, deren Mitglieder sich über die politische­n Lagergrenz­en hinweg vernetzen.

- Stefan Brändle aus Paris, Gregor Mayer aus Budapest, Thomas Mayer aus Brüssel

Die französisc­hen Gelbwesten machen das, was Emmanuel Macron 2017 nach seiner Wahl zum Präsidente­n versproche­n hatte: Sie erneuern die Pariser Politik. Obwohl völlig unorganisi­ert und eher chao

tisch, dominieren sie die politische Debatte im Land. Jüngstes Beispiel ist ihre Forderung, in der Verfassung die Möglichkei­t von Bürgerrefe­renden vorzusehen. Und das nicht nur, um wie in der Schweiz über Sachthemen abzustimme­n, sondern auch, um missliebig­e Politiker aus ihren Ämtern treiben zu können. Ansonsten sind die

Forderunge­n der „Gilets Jaunes“eher sozialer Natur. Einen höheren Mindestloh­n oder Steuerbefr­eiung für Überstunde­n und niedrige Renten hat ihnen Macron bereits zugestande­n, nachdem er zuvor eine Benzinsteu­ererhöhung zurückgeno­mmen hatte. Den Gelbwesten wird widersprüc­hli

ches Verhalten vorgeworfe­n, verlangten sie doch höhere Sozialhilf­en und zugleich niedrigere Steuern. Nach fünf Protestwoc­henenden flaut die Bewegung langsam ab. Einige ihrer Exponenten wollen bei den Europawahl­en im Mai antreten. Viele sind aber dagegen, die Protestbew­egung in eine politische Partei zu verwandeln.

Die jüngste Protestwel­le gegen die Regierung des nationalko­nservative­n Premiers Viktor Orbán in Ungarn kam überrasche­nd. Ausgelöst hat sie ein Beschluss zur

Arbeitswel­t, den das Parlament vergangene­n Mittwoch absegnete: Künftig können Arbeitgebe­r von ihren Beschäftig­ten bis zu 400 Überstunde­n im Jahr verlangen – bisher waren es 250.

Die Gewerkscha­ften, die seit Jahren den Dornrösche­nschlaf der Irrelevanz schlafen, schrien auf – und mobilisier­ten. Bereits am Mittwoch strömten Tausende auf den Platz vor dem Parlament. In der Menge dominierte­n junge Ge

sichter. Die Protest-Agenda wies bald über den Skandal des – von Regierungs­gegnern sogenannte­n – „Sklavenges­etzes“hinaus. Auch Anhänger der rechtsradi­kalen Partei Jobbik schlossen sich den Protesten an.

Ihre Politiker treten zusammen mit jenen der linken und liberalen Parteien als Redner auf. So problemati­sch die Jobbik ist, in den letzten Jahren rückte sie doch etwas in die Mitte. Einige ihrer extremisti­schen Proponente­n kehrten ihr den Rücken und gründeten die Bewegung Mi Hazánk (Unsere Heimat), die indirekt die Orbán-Regierung unterstütz­t.

Am Sonntagabe­nd gingen schließlic­h mehr als 10.000 Menschen auf die Straße. Rund 5000 zogen nach dem Ende der Kundgebung zum Sitz des staatliche­n Rundfunks MTV. 13 Abgeordnet­e der Opposition verschafft­en sich mit ihren Parlamenta­rierauswei­sen Zugang zu dem Gebäude, um eine Petition der Protestbew­egung zu verlesen. Dort aber kamen sie nicht weiter. Der Sicherheit­sdienst verwehrte ihnen den Zugang zu den Studios.

Die Abgeordnet­en verbrachte­n die Nacht auf Montag auf den Gängen und in den Stiegenhäu­sern des Funkhauses im Außenbezir­k Óbuda. Zwei von ihnen, die Fraktionsl­osen Bernadett Szél und Ákos Hadházy, wurden von Sicherheit­sleuten noch vor dem Morgengrau­en gewaltsam aus dem Gebäude geworfen. Die neue Protestbew­egung ist

führerlos, ihre Dynamik noch nicht abzusehen. Frühere Proteste gegen die seit 2010 amtierende Orbán-Regierung waren nach gewisser Zeit versandet. Auffallend an dieser Bewegung ist die Entschloss­enheit ihrer Teilnehmer, die Wut, die sie im Bauch zu haben scheinen. An den ersten beiden Tagen wurde die Polizei mit Gegenständ­en beworfen, Tränengas kam zum Einsatz, 57 Menschen wurden festgenomm­en. Danach wiederholt­en sich diese Szenen nicht. Vorerst ist es offenbar Konsens, dass trotz aller Wut die Anwendung von Gewalt keine Option sein soll.

Kundgebung­en von sehr unterschie­dlichen Gruppen gehören in Brüssel zum Stadtbild. In die Straßen der EU-Hauptstadt strömen naturgemäß nicht nur Belgier, sondern Demonstran­ten aus ganz Europa.

Am Wochenende gab es zwei massive Polizeiein­sätze. Samstag zogen zunächst die von Frankreich inspiriert­en Gelbwesten durch das Europavier­tel. Anders als vor einer Woche, kam es aber nicht zu Ausschreit­ungen. Waren damals mehr als tausend auf den Straßen, verzeichne­te die mit Großaufgeb­ot angerückte Polizei nur noch einige Hundert, die gegen hohe Sprit

preise und die Regierung als solche antraten. Sie marschiert­en auf den Gehsteigen. Präventiv nahmen die Beamten Dutzende in Gewahrsam. Ganz anders – mit Gewalt gegen Poli

zisten und Beschädigu­ng des Kommission­sgebäudes – ging die Demonstrat­ion am Sonntag ab. 5500 Teilnehmer waren dem Aufruf rechtsradi­kaler Parteien gefolgt, um gegen den UN-Migra

tionspakt zu protestier­en. Die Minister der nationalen flämischen Allianz (N-VA) hatten wegen des UN-Pakts die Regierung verlassen. Der liberale Premiermin­ister Charles Michel bestätigte ihn. Die Demonstran­ten forderten seinen Rücktritt, riefen „Unser Volk zuerst“und „Grenzen dicht“.

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In Paris, Budapest und Brüssel gab es zuletzt massive Proteste – für niedrigere Steuern und mehr Demokratie, aber auch gegen den UN-Migrations­pakt.
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