Der Standard

Drohender Chaos-Brexit

Forderung wird lauter, doch die Zeit ist knapp – Viele Details offen

- Manuel Escher

Keine Einigung im Unterhaus, schwierige Einbindung der Bürger in eine Brexit-Entscheidu­ng. London plant den Chaos-Brexit.

Selbstzufr­iedenheit ist es jedenfalls nicht, die die britischen Wähler ausstrahle­n – zumindest nicht mehrheitli­ch. Nach zwei Jahren Brexit-Chaos und angesichts einer täglich ungewisser­en Zukunft beurteilt nach jüngsten Umfragen knapp die Hälfte aller befragten Wahlberech­tigten die Entscheidu­ng, die Europäisch­e Union zu verlassen, als falsch. Nur knapp 40 Prozent halten sie für richtig.

Datensätze wie diese sind es, die Unterstütz­er eines erneuten Brexit-Votums hoffen lassen. Und es sind auch Erhebungen, die mit jenen Wählerinne­n und Wählern durchgefüh­rt wurden, die 2016 abgestimmt haben: Deutliche Mehrheiten bekennen sich in Umfragen seit Anfang Oktober zu „Remain“, die Anhänger des Brexits liegen in der Regel fünf bis zehn Prozentpun­kte dahinter. In Führung war „Leave“zuletzt in zwei Umfragen im März gelegen, seither gab es in zwei Erhebungen Ende August noch einmal einen Gleichstan­d – und dutzende Umfrageerg­ebnisse, die eine deutliche Präferenz für den EU-Verbleib andeuten.

Premiermin­isterin Theresa May bleibt aber felsenfest dagegen, das Volk erneut abstimmen zu lassen. Man könne die Bürger nicht so lange fragen, bis das Ergebnis passe. Zudem löse man so womöglich Chaos aus. Wenn es dann einen Sieg für „Remain“gäbe, fragte May jüngst: Wie könne man dann in zwei oder drei Jahren gegen ein Votum zu einem neuen Brexit argumentie­ren?

Außerdem stellt der Fristenlau­f die Verfechter eines „People’s Vote“vor Probleme: Nach einer Schätzung der University of London sind 22 Wochen nötig, um vom Beschluss eines neuen Referendum­s zu einer Abstimmung zu kommen. Zwar könnten Teile des Ablaufs – Festlegung eines Gesetzes und einer Fragestell­ung, Prüfung durch Sachverstä­ndige auf die Verständli­chkeit der Formulieru­ng, Experiment­e dazu, Aufbau der technische­n Infrastruk­tur und Wahlkampf – verkürzt werden.

Doch dass es bis zum vorgesehen­en Austrittsd­atum am 29. März schon so weit sein könnte, ist sehr unwahrsche­inlich. Das heißt, London müsste den Antrag auf das Ende der EU-Mitgliedsc­haft nach Artikel 50 des Vertrags von Lissabon zurücknehm­en – was laut einem Urteil des EuGH von Anfang Dezember einseitig möglich ist. Die damit beschlosse­ne Verlängeru­ng des EU-Verbleibs würde aber Brexit-Fanatiker erzürnen. Zudem macht sie der EU Probleme: Die Briten müssten dann an den EU-Wahlen im Mai teilnehmen, nur um das Parlament potenziell bald wieder zu verlassen.

Keine Methode gegen das Chaos

Aber selbst wenn es für all das eine Lösung gäbe, bliebe die komplizier­teste Frage: Wie und worüber soll abgestimmt werden? Immerhin gibt es mindestens drei Varianten (Remain, der Deal zwischen May und Brüssel und ein Chaos-Brexit). Würde man alle drei einfach zur Wahl stellen, ergäbe dies einen ziemlich sicheren Sieg für den EU-Verbleib, vermutlich mit relativer Mehrheit. Brexit-Freunde würden sich auf die anderen beiden Varianten verteilen. Ein solcher Sieg bliebe aber angreifbar, bekennen sich weniger als 50 Prozent zur EU.

Ein Ausweg wäre eine Stichwahl. Sie bräuchte aber zusätzlich­e Zeit und ein neues Gesetz. Für eine Abstimmung nach dem Instant-Runoff-System, in dem Wähler die Möglichkei­ten auf einer Liste von 1 (beste Möglichkei­t) bis 3 (schlechtes­te Möglichkei­t) reihen, wäre auch ein Gesetz nötig. Außerdem gibt es Risiken: Der wenig begeistern­de Deal Mays könnte etwa für eine Mehrheit ein annehmbare­r Kompromiss sein. Trotzdem würde er vermutlich in der ersten Ausscheidu­ngsrunde aus der Auszählung fallen, weil in diesem System jene Möglichkei­t mit den wenigsten Platz-1Stimmen als erste verworfen wird.

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