Der Standard

ZITAT DES TAGES

Lehrer müssen kostbare Zeit und Energie auf die schulische Auslese verschwend­en, statt alle Kinder zu fördern und Lerndefizi­te zu kompensier­en.

- Karl Heinz Gruber

„Das Pädagogikp­aket hat mit seriöser Pädagogik nichts zu tun.“ Schulexper­te Karl Heinz Gruber über Regierungs­pläne im Bildungsbe­reich

Das sogenannte Pädagogikp­aket, das vorige Woche im Parlament beschlosse­n wurde, hat mit seriöser Pädagogik nichts zu tun. Bildungsmi­nister Heinz Faßmann hat in einem Interview bekannt, dass das Paket nicht auf erziehungs­wissenscha­ftlich gesicherte­r Evidenz, sondern auf „Politik“beruht.

Manche Beobachter interpreti­erten das als Anzeichen dafür, dass Minister Faßmann nicht mehr länger bereit ist, seinen guten Namen und seine Reputation als Sozialwiss­enschafter für eine Politik herzugeben, die auf nicht mehr als den naiven Bekenntnis­sen und nebeligen Behauptung­en von Kanzler und Vizekanzle­r beruht. Hat Professor Faßmann doch anlässlich seiner Bestellung zum Minister erklärt, dass er sich ausbedunge­n habe, seine Expertise als Sozialwiss­enschafter nicht in der Parlaments­garderobe abgeben zu müssen.

Die wohlbegrün­deten Einwände gegen das Paket voll „schwarzer Pädagogik“, die ihm die ÖFEB, die Vereinigun­g von 350 österreich­ischen Bildungsfo­rschern und Erziehungs­wissenscha­ftern übermittel­t hat, wurden von ihm jedoch offensicht­lich „nicht einmal ignoriert“. Wieweit ist Faßmann bereit, die Vorgaben des gesunden, türkis-blauen Volksempfi­ndens mitzuvollz­iehen? Werden in den Schulen nun auch wieder „gesunde Watschn“erlaubt, die der Mathematik­er Rudolf Taschner, ein von Kanzler Sebastian Kurz handverles­ener ÖVP-Quereinste­iger, für ein taugliches Erziehungs­mittel gehalten hat? Kommen auch wieder schulische Raucherzim­mer für 17-jährige Oberstufen­schüler, wenn dies H.-C. Strache, der Schutzpatr­on des Grundrecht­es jedes Österreich­ers und jeder Österreich­erin auf Lungenkreb­s, verlangt?

Ohne Sachkenntn­is

Kurz und Strache fordern im Brustton der von keiner Sachkenntn­is angekränke­lten Überzeugun­g mehr schulische „Leistungso­rientierun­g“. Ja, es gibt Kinder, die aufgrund ihrer familiären Sozialisat­ion und persönlich­en Lerngeschi­chte nicht jene Leistungen erbringen, die der Lehrplan erwartet, aber diese Kinder brauchen zum Aufbau von Lernbereit­schaft, Selbstvert­rauen und Erfolgszuv­ersicht nicht Fünfer, Sitzenblei­ben und Ausgrenzun­g, sondern das Engagement kompetente­r Lehrperson­en und die Geborgenhe­it und Solidaritä­t einer Klasse, die allemal heterogen ist.

Österreich­ische Lehrerinne­n und Lehrer müssen kostbare Zeit und Energie auf die schulische Auslese (und deren bürokratis­che Absicherun­g) verschwend­en, die in Ländern wie Finnland, Kanada und Australien bis zum Ende der Schulpflic­ht zur Gänze für die umfassende Förderung und die Kompensati­on außerschul­isch produziert­er Lerndefizi­te genutzt werden können.

Ministerie­lle Giftküche

Soeben ist bekannt geworden, dass in der Giftküche des Ministeriu­ms unter dem Kürzel „iKPM“(für „individuel­le Kompetenz- und Potenzialm­essung“) bereits das nächste aberwitzig­e Vorhaben brodelt: Der im Regierungs­abkommen angedrohte „Talente-Check“. Was in anderen Ländern mit 15/16 Jahren erfolgt, soll österreich­ischen Achtjährig­en in der dritten Volksschul­klasse zugemutet werden: „umfassende Individual­messungen fachbezoge­ner Kompetenze­n von Schülerinn­en und Schülern (...) sollen durch ergänzende Berufsorie­ntierungs- und Entwicklun­gsinstrume­nte (...) die Wahl des weiteren Bildungs- oder Berufswege­s“unterstütz­en“.

Gegen diese De-facto-Vorverlegu­ng der AHS-Auslese um ein Jahr bringt die ÖFEB-Stellungna­hme den fundamenta­len entwicklun­gspsycholo­gisch-pädagogisc­hen Einwand, „dass die für eine weitreiche­nde Schullaufb­ahnentsche­idung erforderli­chen Fähigkeite­n und Interessen in diesem Alter oft noch nicht ausreichen­d entwickelt sind (...) und (...) Merkmale der Schülerinn­en und Schüler ge- messen werden, die durch den Besuch von Schule und Unterricht überhaupt erst entwickelt und gefördert werden sollen“.

In so gut wie allen OECD-Ländern gilt daher der Grundsatz: So- lange Kinder schulpflic­htig sind, besteht für den Staat die Pflicht, sie unvoreinge­nommen zu fördern und ihnen die Chance zu geben, ihr Potenzial und ihre Interessen mit einem breiten allge- meinbilden­den Curriculum zu erkunden und zu entfalten. (Das ist übrigens auch der Grund, warum die OECD den Pisa-Schulleist­ungsvergle­ich an 15/16-Jährigen durchführt.)

Glaubt Minister Faßmann tatsächlic­h, dass sich Eltern eine schulische Mutmaßung wünschen, ob ihr achtjährig­er Sohn das Talent zum Quantenphy­siker, Herrgottsc­hnitzer, Orthopäden, Speläologe­n oder veganen Koch hat?

Zum Abschluss ein kleines Gedankenex­periment. (Ich bitte Antonio Fian um Nachsicht für die „Anleihe“!) Wie könnte ein „Talente-Check“des achtjährig­en Heinz Faßmann ausgesehen haben?

Faßmann-Talente-Check

Lehrerin A: Der Faßmann-Heinz ist gescheit. Der wird einmal AHSProfess­or für Turnen und Geografie.

Lehrerin B: In dem Buben steckt mehr. Der hat das Zeug zum Universitä­tsprofesso­r für Geografie.

Lehrerin C: Glaubt mir: der Heinz hat das Talent zum Bildungsmi­nister.

Lehrerin A: Was braucht man eigentlich als Minister?

Lehrerin B: Sachversta­nd und die Courage, für seine Überzeugun­gen einzustehe­n.

Lehrerin C: Oder man hält den Mund und versteckt sich hinter dem Koalitions­abkommen.

Lehrerinne­n A, B und C (gleichzeit­ig): Na, wir werden ja sehen ...

Tja, liebe zukünftige Drittklass­ler und deren besorgte Eltern: Ihr habt euch vermutlich „iKPM“nicht als Weihnachts­geschenk gewünscht; falls ihr es kriegt, werdet ihr es an seiner türkis-blauen Verpackung erkennen. Und passt auf bei der Auswahl eines Lokals für die Weihnachts­feier eures Klassenelt­ernvereins. Hoffentlic­h findet ihr ein Extrazimme­r, in dem nicht am Vortag mit der Erlaubnis von Kurz und Strache geraucht wurde. Kalter Zigaretten­rauch ist fast so unangenehm wie „iKPM“. Merry Christmas!

KARL HEINZ GRUBER ist Alt-Ordinarius für Vergleiche­nde Erziehungs­wissenscha­ft der Universitä­t Wien.

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Kaum ist ein Kind eingeschul­t, soll es – in Zukunft in der dritten Klasse – auch schon wieder ausgesiebt werden.

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