Der Standard

Britische Bürger begehren, über Brexit zu befinden

Weil eine Einigung im Unterhaus immer unwahrsche­inlicher wird, sucht Großbritan­nien nach neuen Wegen, die Bürger in eine Brexit-Entscheidu­ng einzubinde­n. Aber auch dafür stehen die Chancen schlecht – deshalb plant London für den Chaos-Brexit.

- Sebastian Borger aus London, Manuel Escher, Noura Maan

Hat Großbritan­nien den Zeitpunkt für eine Entscheidu­ng schon verpasst? Je näher das Datum rückt, an dem sich die zersplitte­rten Brexit-Fraktionen im Unterhaus auf einen Kompromiss einigen müssten, um nachhaltig­en Schaden von ihrem Land abzuhalten, desto ferner scheint eine Einigung. Viele Brücken sind verbrannt, viele Ansichten haben sich in mehr als zwei Jahren nach dem BrexitVotu­m zu Überzeugun­gen verfestigt.

Dazu kommt, dass der Brexit für die beiden großen Parteien zu einem Nullsummen­spiel im Griff nach der Macht geworden ist: Wer nachgibt, droht für die nächsten Jahre in der demokratis­chen Versenkung zu verschwind­en, glauben Premiermin­isterin Theresa May, ihre innerparte­ilichen Kritiker und die proeuropäi­schen Teile der Opposition unisono – das erschwert nicht nur einen Kompromiss, sondern auch den Weg dorthin.

Weil der parlamenta­rische Weg also verbarrika­diert ist und bis zum Stichtag am 29. März 2019 nicht ausreichen­d räumbar erscheint, will eine Gemeinscha­ft prominente­r Briten nun Auswege finden. Die Gruppe, deren Mitglieder vom Schriftste­ller Ian McEwan bis zum früheren anglikanis­chen Erzbischof Rowan Williams reichen, plädiert für eine sogenannte Bürgervers­ammlung von bis zu 500 repräsenta­tiv ausgewählt­en Wahlberech­tigten. Sie soll – unterstütz­t von Experten und profession­ellen Vermittler­n – im Gespräch miteinande­r neue Vorschläge entwickeln. Ähnliche Foren gab es beispielsw­eise in Irland vor der jüngsten Volksabsti­mmung über eine Reform des Abtreibung­srechts (siehe Wissen).

Auswege aus der Blockade

„Ohne eine neue Initiative würde die vergiftete Atmosphäre, die unser öffentlich­es Leben erfasst hat, der Demokratie und unserer Zukunft unwiderruf­lichen Schaden zufügen“, schreiben die Initiatore­n in der Zeitung The Guardian. Freilich gibt es auch große Unterschie­de zum erfolgreic­hen Experiment in Irland: Die dortige Bürgervers­ammlung hatte fast ein Jahr Zeit, um zu einem Ergebnis zu kommen. Zudem war sie der seit 2012 bereits zweite Anlauf für ein solches Gremium. Die Briten hätten viel weniger Zeit und nur einen Versuch.

Ob sich Regierung und Opposition darauf einlassen würden, ist ebenfalls fraglich – nicht zuletzt wegen der eigenen Machtinter­essen. So geistern weiter auch andere Ideen durch das politische London. Neben einem zweiten Referendum (siehe unten) wird auch über eine Abstimmung­sserie im Unterhaus nachgedach­t. Die Abgeordnet­en sollen nacheinand­er darüber befinden, welche Lösung – das aktuelle Abkommen mit der EU, eine Lösung wie sie etwa Norwegen hat, ein Brexit ohne Deal oder ein neues Referendum – die meiste Unterstütz­ung hat. Danach solle die Regierung darüber mit Brüssel verhandeln, so die Idee.

Weil all diese Bemühungen bisher aber ins Leere gehen, laufen nun auch in London Vorbereitu­ngen, um die schlimmste­n

Folgen eines Brexits ohne Deal im Notfall abzufedern. May, die sich noch am Wochenende geweigert hatte, über einen solchen Plan B zu sprechen, ließ genau dieses Vorhaben in einer Kabinettss­itzung von den Ministern in die Wege leiten.

Bald steht May dann vor einer weiteren Kraftprobe im Unterhaus: Opposition­sführer Jeremy Corbyn hat am Montag einen Misstrauen­santrag eingebrach­t – allerdings nicht gegen die Regierung, sondern gegen May. Eine solche Abstimmung kann sie nicht stürzen, sondern nur bloßstelle­n. Das Risiko eines Votums über das Kabinett will Corbyn hingegen nicht gehen, da eine Niederlage wahrschein­lich wäre. Er bräuchte neben Stimmen der eigenen Partei auch einige der Tories. Dort sind viele Hardliner zwar gegen May – Neuwahlen, die der Opposition helfen, wollen sie aber nicht.

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Kampagne für ein neues Votum: Der Apostroph ist schon via Luftballon entflogen.

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