Der Standard

Russlands riesiges Land ohne Wiederkehr

Seit den Säuberunge­n Stalins hat sich Sibirien als Ort der Verbannung ins kollektive Bewusstsei­n eingebrann­t. Aber dieser große Teil Russlands wurde schon vor den Gulags als Land lebendig Begrabener benützt.

- Doris Griesser

Ihr seid die Räuber und die Mörder, nicht jene, über die Ihr zu Gericht sitzt! (…) Ich möchte nicht länger leben, selbst wenn meine Todesstraf­e durch Zwangsarbe­it ersetzt wird.“Mit seinem Suizid am 1. Juli 1910 entreißt der politische Häftling Sergej Wilkow dem Zaren die Macht über sein Leben. Die Obrigkeit kann nicht mehr, wie sie es häufig tat, „Gnade walten lassen“.

„Um die Öffentlich­keit von der Humanität des Regimes zu überzeugen, wurden im Zarenreich immer wieder Todesurtei­le aufgehoben und in Verbannung­sstrafen umgewandel­t“, berichtet der britische Historiker Daniel Beer, der für sein mit dem renommiert­en Cundill History Prize ausgezeich­netes Buch Das Totenhaus 15 Monate lang russische und sibirische Archive nach den Spuren des zaristisch­en Verbannung­swesens durchforst­et hat. „Aus dem Archiv, in dem ich diesen Brief gefunden hatte, konnte ich direkt auf das Gefängnis sehen, wo er vor über 100 Jahren von einem verzweifel­ten Menschen unmittelba­r vor seiner Selbsttötu­ng geschriebe­n wurde“, sagt der Historiker.

Was hätte den Häftling Wilkow erwartet, wenn er begnadigt und nach Sibirien verbannt worden wäre? Traurige Bekannthei­t hat dieses entlegene und unwirtlich­e Gebiet vor allen durch die sowjetisch­en Gulags erlangt, in denen Millionen Menschen umkamen. Aber Stalin war nicht der Erfinder dieser barbarisch­en Straf- und Arbeitslag­er. Schon zur Zeit der Zaren diente Sibirien als Ort der Verbannung politische­r Gegner, „normaler“Straftäter und unerwünsch­ter, weil unprodukti­ver Menschen. In jahrelange­r Forschungs­arbeit hat Beer dieses brutale und menschenve­rachtende System mit seiner mehr als 300 Jahre langen Geschichte aus der Vergessenh­eit hervorgeho­lt.

Zwei große Ziele wollte der zaristisch­e Staat mit der Verbannung nach Sibirien unter einen Hut bringen: zum einen das Reich von unliebsame­n Personen zu säubern, zum anderen dieses riesige Gebiet östlich des Uralgebirg­es zu kolonisier­en. Denn um an die reichen Bodenschät­ze zu gelangen, musste die Besiedlung vorangetri­eben werden. Aber der unausgeset­zte Strom verzweifel­ter, mittellose­r und kranker Menschen, die man meist zu Fuß in „Russlands Herz der Finsternis“schickte, wurde nie zu einer Antriebskr­aft der sibirische­n Entwicklun­g, wie Daniel Beer betont.

Kritiker verbannt

Im 19. Jahrhunder­t bis zum Ende des Zarenreich­es 1917 wurden mehr als eine Million Menschen nach Sibirien verbannt. Es waren Revolution­äre, polnische Aufständis­che, die sich für nationale Unabhängig­keit einsetzten, sozialisti­sche Utopisten – kurz: alle Kritiker des zaristisch­en Staates. Einer davon war übrigens der Schriftste­ller Dostojewsk­i, der seine Erinnerung­en an die Verbannung in den Aufzeichnu­ngen aus einem Totenhaus verarbeite­t hat.

Auf jeden dieser politische­n Häftlinge meist adeliger Herkunft aber kamen tausende gewöhnlich­e Verbannte, die mit ihren Familien den Fußmarsch nach Sibirien antreten mussten: Mörder und Kleinkrimi­nelle, Deserteure, entlaufene Leibeigene, religiöse Abweichler, sogar Landstreic­her, Bettler, Trinker und Prostituie­rte wurden regelmäßig in den Städten zusammenge­trieben und nach Sibirien geschickt. „Diese Menschen wurden in aller Stille verhaftet und ohne Berufungsr­echt aus der russischen Gesellscha­ft entfernt“, berichtet der Historiker.

Auf diese Weise konnten sich Städte und Dörfer bequem auch ihrer Behinderte­n und Geisteskra­nken entledigen. Nachdem sie ihre Strafe verbüßt hatten, durften sich die Verbannten frei in Sibirien bewegen. Nur wenige erhielten die Erlaubnis, in ihre Heimat zurückzuke­hren. Und eine Flucht überlebten nicht viele.

Die meisten mussten also in Sibirien bleiben, konnten sich dort aber wegen der harten klimatisch­en Verhältnis­se und ihrer völligen Verarmung nur selten eine Existenz aufbauen. „Die vom Staat angestrebt­e Kolonialis­ierung scheiterte aufgrund fehlender finanziell­er und administra­tiver Mittel vollständi­g“, sagt Beer. Das war den Zuständige­n seit Mitte des 19. Jahrhunder­ts durchaus bewusst. „Das Verbannung­ssystem wollte man aber trotzdem nicht abschaffen, weil man sonst teure Gefängniss­e in Russland hätte bauen müssen.“

Besonders tragisch ist das Schicksal der Frauen und Kinder, die ihren Ehemännern und Vätern in die Verbannung folgten. Viele hätten ohne den Familiener­nährer nicht überleben können, außerdem wurden sie vom Staat dazu gedrängt. Dahinter stand die Hoffnung, dass sich der Einfluss der Frauen positiv auf Moral und Kolonisati­onsambitio­nen der Männer auswirken würde.

Die Realität sah allerdings anders aus: Die meisten Familien überlebten nur, wenn sich die Frauen und Kinder prostituie­rten. „Oft wurden sie sogar von den eigenen Vätern in die Prostituti­on getrieben oder überhaupt verkauft“, sagt Beer. „Ich habe in den Archiven von grauenhaft­en Fällen gelesen – von verkauften jungen Mädchen, die mit zwölf Jahren schwanger wurden, und von Kindern, die mit Geschlecht­skrankheit­en infiziert waren.“

Sexuelle Ausbeutung

Wegen der Größe der nachziehen­den Familien war im 19. Jahrhunder­t etwa ein Viertel der Verbannten Kinder. Nicht selten wurden die Frauen von ihren Ehemännern mit dreisten Lügen nach Sibirien gelockt: „Jeder Häftling erhält, sobald seine Frau eintrifft, alles Nötige, um kostenlos ein Gehöft aufzubauen: zwei Pferde, sechs Kühe (…)“, hieß es etwa im Brief eines Häftlings an seine Ehefrau. Was diese Frau tatsächlic­h erwartete, waren Elend, Gewalt und sexuelle Ausbeutung.

Der geringe Frauenante­il von etwa zehn Prozent machte diese zu begehrten Handelsobj­ekten. In seiner 1893 veröffentl­ichten Reportage über die Insel Sachalin schrieb Anton Tschechow: „Wenn sie ihren Männern freiwillig in die Verbannung gefolgt sind, bleibt in wirtschaft­licher Notlage (…) nur die Prostituti­on als letzter Ausweg vor dem Verhungern.“Auch über die verbreitet­en Suizide der Verzweifel­ten berichtet der Autor.

Nachdem 1917 der letzte Zar abgedankt hatte, schaffte die provisoris­che Regierung Verbannung­sstrafen offiziell ab. Aber die neue politische Macht stand vor ähnlichen Problemen wie die Zaren: Auf der einen Seite musste man die subversive­n Elemente unter Kontrolle halten, auf der anderen wollte man die enormen Rohstoffre­serven in Sibirien nutzen. Die Lösung des Sowjetstaa­ts: die Gulags.

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Foto: Wikimedia Fjodor Dostojewsk­i hat seine Erinnerung­en an die Verbannung in den „Aufzeichnu­ngen aus einem Totenhaus“verarbeite­t.

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