Der Standard

Angenehmes Unwohlsein

Das dritte Album der britischen Erfolgsban­d The 1975 ergibt genauso wenig Sinn wie das Internet. Gerade dadurch aber wird es zu einem gelungenen popkulture­llen Zeitzeugni­s.

- Amira Ben Saoud

Eure Musik klingt genauso wie …“ist kein guter Gesprächse­instieg mit Musikern. Alles wurde schon gemacht, niemand aber liebt es, auf das eigene Epigonentu­m reduziert zu werden. Käme man Matthew Healy, dem kreativen Epizentrum der britischen Erfolgsban­d The 1975, mit so einem Einstieg, würde er allerdings vermutlich zustimmend nicken. Kürzlich erklärte der 29-Jährige in der New York Times seine Herangehen­sweise ans Komponiere­n: Sie besteht darin, Lieder, die er liebt, zu kopieren. Das tun andere natürlich auch, nur sagen sie es nicht so direkt. Und wenn doch, nennen sie es Inspiratio­n und nicht Kopie.

Aber mehr als kreatives Arbeiten mit Versatzstü­cken kann man heute sowieso nicht verlangen. Solange am Schluss eines Pop-Albums mehr als nur die Summe der Teile herausscha­ut, ist es schon eine runde Sache.

Bewusst unrund

Das dritte Album von The 1975, A Brief Inquiry Into Online Relationsh­ips, will aber alles andere als rund sein. Da ist I Couldn’t Be More in Love, eine täuschend echte Michael-Bolton-Fälschung im 1980er-Glanz. Oder Tootimetoo­timetootim­e, die Afrobeat- und PopMischun­g, welche bei Drakes One Dance so gut funktionie­rt hat. Oder How to Draw / Petrichor, dessen zweite, bessere, Hälfte fast vom Meister des britischen Club- sounds, Burial, stammen könnte. Mal hört man die frühen EmoRock-Wurzeln der Band durch, mal zeitgeisti­gen Rhythm ’n’ Blues. Und ehe man sich’s versieht, biegt Healy als in reichlich Autotune gehülltes Bon-IverDouble ums Eck. Dinge existieren nebeneinan­der, die sich nach konvention­eller Albumlogik nicht ausgehen. Nach der Logik des Internets aber schon.

Ekel und Faszinatio­n

The 1975 treten als Browser in Erscheinun­g, in dem einige Tabs offen sind, Bedeutende­s und Banales passiert gleichzeit­ig. Ertrinkend­e Flüchtling­skinder, Pornos, Trump und Katzenvide­os: Alles ist immer verfügbar, und doch hat die Suchmaschi­ne keine Antworten auf Fragen. A Brief Inquiry Into Online Relationsh­ips ist inhaltlich vom digitalen Zeitalter fasziniert, angeekelt und enttäuscht.

„Modernity has failed us“, gröhlt Healy, nur um gleich mit einem optimistis­chen „I’d love it if we made it“– ja, wir schaffen das – auf dem gleichnami­gen Track weiterzuma­chen. Diese Musik ist damit nicht nur Zeitzeugni­s einer widersprüc­hlichen Online-Kultur, sondern auch ein Kommentar auf sie. Healy ist nicht nur Protagonis­t, sondern auch Chronist. Wie man so schön sagt, trifft er damit einen Nerv: Seine Fans fühlen sich in ihrem digitalen Unwohlsein verstanden und füllen auch analog die Stadien.

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