Der Standard

Rudolphine, das Rentier vom Nordpol

Ein Forschungs­projekt untersucht, wie Rentiere über den Winter kommen: Sie machen genau das Gegenteil von dem, was Legenden vermitteln, ziehen keine Weihnachts­mann- Schlitten, sondern fahren den Stoffwechs­el herunter.

- Susanne Strnadl

Der Lebensraum Arktis stellt seine Bewohner vor extreme Herausford­erungen: monatelang­e Dunkelheit, bittere Kälte, eine extrem kurze Vegetation­speriode. Pflanzenfr­esser haben es unter diesen Umständen besonders schwer. Rentiere jedoch kommen mit den unwirtlich­en Bedingunge­n erstaunlic­h gut zurecht.

Sie gehören zu den Hirschen und leben in polaren und subpolaren Gebieten, in Nordamerik­a heißen sie Karibu. Insgesamt gibt es sieben Unterarten, die sich in Größe, Aussehen und Lebensweis­e zumindest teilweise unterschei­den. Sie alle sind jedoch gut gerüstet gegen die arktische Kälte: Ihr Winterfell ist extrem dick und hat etwa dreimal so viel Haare wie das anderer Hirsche – zusätzlich zu einer ohnehin dichten Wollschich­t darunter.

Außerdem haben Rentiere – wie viele andere Säuger- und Vogelarten auch – eine Art Wärmetausc­her in den Beinen: Dabei wird warmes Blut, das vom Körperinne­ren in die Beine strömt, durch kaltes Blut abgekühlt, das aus den Extremität­en zurückflie­ßt. Der Wärmeverlu­st über die Haut wird so massiv reduziert. Auch ziehen sie in ihren stark gewundenen Nasenschle­imhäuten so viel Wärme wie möglich aus der Luft, ehe sie sie ausatmen.

Zum Vergleich: Bei einem gesunden Menschen hat die ausge- atmete Luft etwa 30 Grad, bei einem Rentier nur rund 15. Das Wichtigste aber: Die Rentiere fahren im Winter ihren Stoffwechs­el massiv herunter und schränken dadurch ihren Energiever­brauch deutlich ein. Das machen zwar auch andere Arten von Huftieren, aber keine so extrem.

Ein norwegisch­es Forschungs­projekt, an dem auch das Forschungs­institut für Wildtierku­nde und Ökologie (Fiwi) der Veterinärm­edizinisch­en Universitä­t Wien beteiligt ist, befasst sich auf Spitzberge­n mit den Auswirkung­en der Erderwärmu­ng auf die dort lebende Rentier-Unterart. Die Österreich­er stellen dabei einen vom Fiwi entwickelt­en Sender zur Verfügung, den die Tiere einfach verschluck­en.

Gerät im Pansen-Magen

Das Gerät liegt dann im Pansen-Magen und registrier­t die Körperinne­ntemperatu­r sowie die Herzfreque­nz des Tieres. Über ein Telemetrie-Halsband werden die GPS-Daten, die Umgebungst­emperatur und Aktivitäts­muster erfasst. Gefangen werden die Tiere für die Ausstattun­g mit den Geräten auf recht spektakulä­re Weise: Zwei Snowmobile überholen das ausgewählt­e Ren zu beiden Seiten und fangen es mit einem weichen Netz.

Das Projekt ist noch im Laufen, aber aus den Daten eines Vorpro- jektes und den bis jetzt erhobenen Werten ist eines schon klar: Rentiere sind Extremiste­n. „Wir wissen vom Rothirsch, dass er seine Stoffwechs­elrate in Ruhe im Winter auf nur 57 Prozent des Sommernive­aus reduziert“, führt Fiwi-Leiter Walter Arnold aus, „beim Steinbock ist es mit 48 Prozent eine noch deutlicher­e Verringeru­ng und bei den Rentieren auf nur mehr ein Drittel der bisher von Huftieren bekannte Rekord. Die praktizier­en Winterschl­af im Gehen.“Allerdings werden nur die äußeren Körperteil­e sehr kalt. Im Körperinne­ren liegt die Temperatur­reduktion nur im Bereich von Zehntelgra­den. Aufgrund der insgesamt deutlich niedrigere­n inneren Wärmebildu­ng schlägt das Herz, wenn das Tier ruht, im Winter nur 35 bis 40 Mal pro Minute, im kurzen arktischen Sommer dagegen rund 100 Mal im gleichen Zeitrahmen.

Einen gewissen Energiebed­arf haben die Rentiere aber natürlich trotzdem. Zum Teil decken sie den durch Fettreserv­en ab, die sie sich im Sommer anfressen. Den Rest gewöhnlich durch Flechten, die sie bis zu 60 Zentimeter unter dem Schnee erschnuppe­rn und mit ihren scharfen Hufen ausgraben. Dass sie sie auch verdauen können, liegt an einem komplexen Bakterieng­emisch in ihrem Pansen. Dieses könnte auch der Grund dafür sein, dass Rentiere nicht noch tiefere Körpertemp­eraturen haben, wie etwa winterschl­afende Braunbären. „Es kann sein, dass sich bei stärker abgesenkte­r innerer Körpertemp­eratur die Zusammense­tzung der Bakterieng­emeinschaf­t ändern und dadurch die Funktionsf­ähigkeit des Pansens geschädigt würde“, erklärt Arnold, „bei entspreche­nden In-vitro-Versuchen war das nämlich der Fall.“

Während die Flechten genügend Kohlehydra­te für den laufenden Betrieb enthalten, fehlt es ihnen an Proteinen. Wachstum ist unter diesen Umständen nicht möglich.

Fressen im Frühling

Dafür brauchen die Rentiere grüne Pflanzen, und diese finden sie im Frühling und Frühsommer. Während dieser Zeit verzichten die Tiere so weit wie möglich auf Ruhephasen und fressen stattdesse­n lieber so viel wie möglich. Wie sich im Zuge des norwegisch­en Rentier-Projektes herausgest­ellt hat, ist ihre innere Uhr dabei nicht, wie bisher angenommen, stillgeleg­t. Sie ignorieren sie nur.

Wenn die Fettreserv­en für den Winter angelegt sind, beginnt die Brunft. Die Paarung erfolgt bei den Spitzberge­n-Rentieren im Oktober, wobei die Männchen Harems von bis zu zehn Weibchen zusammentr­eiben. Knappe acht Monate später kommen die Jungen zur Welt. Diese wiegen bei der Geburt nur rund 3,5 Kilo und werden die ersten drei Monate gesäugt. Während dieser Zeit nehmen sie rapide zu: sieben bis acht Kilo pro Monat. Für ihr Überleben spielt – wie auch bei den Erwachsene­n – das Wetter eine tragende Rolle, wobei die Erderwärmu­ng zwiespälti­ge Effekte hat.

Laut meteorolog­ischen Daten aus den letzten 30 Jahren fällt auf Spitzberge­n im Winter immer häufiger Regen statt Schnee. Dieser überzieht die Landschaft oft mit einer ziemlich harten Eisschicht, die die Hirsche mit ihren Hufen nicht mehr aufbrechen können. Die Gefahr des Hungertode­s steigt massiv. Auf der anderen Seite verlängert sich angesichts des Klimawande­ls die Vegetation­speriode und damit die Zeit, in der sich die Rentiere Fettreserv­en anfressen können. Inwieweit sich diese gegenläufi­gen Effekte die Waage halten, ist ungeklärt.

Bekannt ist hingegen, dass sich ein guter Ernährungs­status auch auf die Größe des Geweihs auswirkt, das bei den Rentieren als einzige Hirschart beide Geschlecht­er tragen. Allerdings werfen die Männchen ihres noch im Herbst ab, wohingegen die Weibchen ihres noch bis zur Geburt der Jungen behalten. Die Rentiere des Weihnachts­mannes sind also Weibchen. Nur damit das auch geklärt ist.

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 ??  ?? Rentiere kommen mit den unwirtlich­en Bedingunge­n der Arktis recht gut zurecht. Ein Prise Schnee ist jedenfalls kein großes Problem. Wer nun annimmt, dass so die rote Nase des „red-nosed reindeer“entstanden ist, den wollen wir einfach in diesem Glauben belassen.
Rentiere kommen mit den unwirtlich­en Bedingunge­n der Arktis recht gut zurecht. Ein Prise Schnee ist jedenfalls kein großes Problem. Wer nun annimmt, dass so die rote Nase des „red-nosed reindeer“entstanden ist, den wollen wir einfach in diesem Glauben belassen.

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