Ein Ohr für die Weihnachtskrise
Weihnachten triggert Krisen. Bei Menschen mit psychiatrischen Problemen und ihren Angehörigen verstärken sich die Sorgen. Die telefonische Soforthilfe ist 24 Stunden erreichbar, auch an den Feiertagen.
Durchs Fenster tönt das Klingeln der 18er-Straßenbahn, im nächsten Moment rauscht dahinter die U6 vorbei. Auf der Straße sind Menschen unterwegs, die es eilig haben. „Zu Weihnachten merkt man am stärksten, dass man nicht dazugehört“, sagt Juliane Walter-Denec, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin und Leiterin des Sozialpsychiatrischen Notdiensts mit Sitz im letzten Haus der Wiener Gumpendorfer Straße, direkt am Gürtel.
Vom vorweihnachtlichen Trubel merkt man hier drinnen nichts. Walter-Denec sitzt im Behandlungszimmer im ersten Stock hinter dem Schreibtisch und erzählt in aller Ruhe – für wen sie und ihre Kollegen da sind und von den Krisen jener Menschen, die sich an die Soforthilfe wenden, vor allem in der Weihnachtszeit. „Dann wird den Menschen ihre Einsamkeit klarer und dass sie nicht teilhaben an gesellschaftlichen Dingen wie Familientreffen. Viele haben wenig Mittel, können beim Weihnachtskonsum nicht mitmachen“, sagt Walter-Denec.
Zu Weihnachten verstärken sich dann vorhandene Symptome. „Die Menschen werden noch depressiver oder psychotische Symptome wieder stärker. Es kommt zu einer Destabilisierung“, sagt auch Elke Fuchs aufgrund ihrer Erfahrung mit den Anrufern beim Niederösterreichischen Krisentelefon, das vom Hilfswerk betrieben wird. Fuchs ist dort Leiterin des Geschäftsbereichs Familien- und Beratungszentren. Sie weiß, dass es zu Weihnachten noch wichtiger ist, jemanden zu haben, mit dem man reden kann.
Ernüchternder Jahresbeginn
Direkt zu den Feiertagen gibt es allerdings keinen statistischen Anstieg der Anruferzahlen. Die häufigere Nachfrage kommt erst danach, „mit der Ernüchterung zu Jahresbeginn“, sagt Walter-Denec. Oder weil die Feiertage familiäre Dynamiken und Probleme auslösen, weiß Fuchs ebenfalls vom Hilfswerk-Frauentelefon.
Am anderen Ende der Leitung sind Menschen, die oft allein leben, an Depressionen oder einer anderen psychischen Erkrankung leiden. Manche sind in Behandlung, manche nicht. „Die Betroffe- nen haben verschiedenste Arten von Krisen, darunter sind depressive, ängstliche und auch psychotische Zustände, oder es gibt eine Suizidgefahr. Die Menschen sind verzweifelt, hoffnungslos und wissen nicht, wie sie weitertun sollen“, so Walter-Denec. Auslöser sind oft ein Todesfall in der Familie oder ein Jobverlust.
Andere befinden sich in einer sozialen oder psychischen Krise. Fuchs erzählt von einer Frau, die regelmäßig beim Krisentelefon anruft, um darüber zu sprechen, wie es ihr geht. „Sie ist in einer Partnerschaft enttäuscht worden, hat große Ängste.“Durch ihre Anrufe beim Krisentelefon ist es gelungen, die Frau zu stabilisieren. „Sie hat mit dem Rückhalt, immer anrufen zu können, wieder Vertrau-
„Das Schwierige an diesen Telefonaten ist, dass man auf die konkreten Probleme eingehen muss, sich gleichzeitig auch rasch die weitere Vorgehensweise und Betreuung überlegen muss“, so die Psychiaterin. Das Ziel ist, ein Gefühl für den Menschen am anderen Ende der Leitung zu bekommen und eine Beziehung aufzubauen. Beim Anrufer sollen sich Angst und Aufregung legen.
Die Mitarbeiter des Notdienstes müssen Geduld und Einfühlungsvermögen, Offenheit und Wertschätzung mitbringen. „Geht es um Suizidgefahr, müssen wir feinfühlig hinterfragen und schnell Zusammenhänge erkennen. Manchmal muss man sich auch gleich mit der Polizei kurzschließen, um eine Einweisung ins Krankenhaus zu organisieren“, sagt Walter-Denec und ist froh, dass die Mitarbeiter nie allein entscheiden müssen. Nach einem Telefonat wird im Team beraten.
Immer erreichbar
Es ist ein Beruf, der fordernd und belastend sein kann. Dennoch ist es weder beim psychiatrischen Notdienst noch beim Hilfswerk schwierig, Mitarbeiter zu finden, die diese Dienste übernehmen – auch nicht zu Weihnachten. Walter-Denec: „Es gibt einem unheimlich viel, wenn man das Gefühl hat, helfen zu können.“
Die Menschen, die hier vor den Telefonen sitzen, egal ob draußen gerade Tag oder Nacht ist, hören jedem zu, auch wenn beim Notdienst nicht immer alle Anrufer zu hundert Prozent richtig sind. Denn er ist ein Angebot für Menschen mit einer psychiatrischen Problemstellung und „keine Telefonseelsorge“, wie ein Mitarbeiter aus dem Büro klarstellt. „Wer Sorgen und Probleme hat, ist dort besser aufgehoben.“Walter-Denec relativiert: „Man kann nicht immer auf den ersten Blick sagen, ob es sich um eine psychiatrisch relevante Situation handelt, die behandelt werden muss. Zum Beispiel stecken viele Menschen nach einem Todesfall in der Familie in einer schweren Krise, haben aber noch gute Bewältigungsmechanismen. Sie brauchen dann zwar keinen Facharzt für Psychiatrie, aber trotzdem Unterstützung.“Der Notdienst hilft, die richtige Anlaufstelle zu finden, etwa das Kriseninterventionszentrum, oder vermittelt eine längerfristige Behandlung.
Für viele Anrufer ist der telefonische Notdienst auch der erste Kontakt mit einer medizinischen Stelle. Denn psychiatrische Erkrankungen sind in der Gesellschaft immer noch mit Vorurteilen behaftet. „Leider schämen sich viele, in eine Ambulanz oder zum Psychiater zu gehen“, sagt WalterDenec und ermutigt Betroffene: „Wem es nicht gutgeht, der sollte sich jemandem anvertrauen. Das entlastet enorm, besonders zur Weihnachtszeit. Ein Gespräch relativiert, Reden hilft.“
So denken auch jene Menschen, die ganz regelmäßig beim Notdienst anrufen, oft mehrmals am Tag, weil sie mit jemandem reden wollen. Sie erzählen uns, so Walter-Denec, dass sie jetzt schlafen gehen, wie es beim Fußball steht, was sie von der Politik halten oder einfach, dass es ihnen jetzt wieder besser geht. Das sind wohl die schönsten Anrufe, besonders zur Weihnachtszeit.