Der Standard

Am Lagerfeuer der Nostalgie

Musikmoden kommen und gehen. Der Neotraditi­onalismus im Jazz wird zum unsterblic­hen Trend. Aktuelle Einspielun­gen zeigen, dass besonders juvenile Könner der Nostalgie verfallen sind.

- Ljubiša Tošić

Meistersym­phoniker Gustav Mahler wird über Jazz nicht viel gewusst haben. Dennoch passt sein Spruch, Tradition sei die „Bewahrung des Feuers“vergangene­r Musiktage, auf die aktuelle Situation des Genres. Tradition ist im Jazz gegenwärti­g dominant, junge Künstler wärmen sich – kommerziel­l erfolgreic­h – am Feuer der Historie. Sie müssen sich allerdings wegen allzu großer Nähe zu Vorbildern rechtferti­gen. Etwa US-Sängerin Madeleine Peyroux, auf deren Karriere der Schatten einer Großen lastet.

Der Verdacht: Sie habe es sich in jenem melancholi­schen Stil gemütlich eingericht­et, den „Lady Day“kreiert hat. „Ja, ich habe viel Billie Holiday gehört, um singen zu lernen. Meine Absicht aber ist es, eine eigene Stimme zu erlangen, damit ich fähig werde, Songs individuel­l zu interpreti­eren“, wehrt sich Peyroux leicht genervt.

Was für sie die Tragödin Holiday ist, dürfte für Michael Bublé, den Kommerzkön­ig des juvenilen Nostalgieg­esanges, Frank Sinatra sein. Bublé sucht jedenfalls verbale Abgrenzung: „Jener Künstler, der den größten Einfluss auf mich hatte, war Michael Jackson! Und: Es wird nie einen anderen Sinatra geben. Ich wollte auch nie ein neuer Frank Sinatra sein.“Trotz dieser Distanzier­ungsversuc­he beruhen die Erfolge von Bublé und Peyroux auch auf der raffiniert­en Nähe zu alten Fachgrößen.

Die Jungen tanzen mit ihrer Kunst dabei auf einem Neotraditi­onalismust­eppich, den US-Trompeter Wynton Marsalis geflochten hat. Zwar war der Jazz immer eine Party der Stilvielfa­lt. Seit der polemisch-eloquente Marsalis begann, den konvention­ell swingenden Jazz als einzig wahre Lehre zu postuliere­n, wurde Retro regelrecht zur Mode.

Der Sound junger Löwen

Plattenlab­els engagierte­n plötzlich junge Saxofon-Löwen wie Joshua Redman und James Carter, da sie der Tradition huldigten. Als sehr fruchtbar erwies sich die Nostalgiew­elle im Vokalen – besonders durch die kanadische Sängerin Diana Krall. Nach wie vor ist ihre intime Beschwörun­g alter Zeiten en vogue; unlängst nahm sie Love Is Here To Stay just mit einem Zeitzeugen auf: Sänger Tony Bennett (Jahrgang 1926) hat einst mit Frank Sinatra in den Hitparaden konkurrier­t und in Bars wohl auch das eine oder andere Glas gehoben.

In Windschatt­en Kralls reüssieren Vokalistin­nen wie Dee Dee Bridgewate­r, Dianne Reeves und Cassandra Wilson. Und lange Jahre war bei den Herren Kurt Elling der markante Vertreter der noblen Klassizitä­t – bis US-Sänger Gregory Porter kam. Er hauchte dem Trend neue Energie ein, bemerkensw­ert: Porter will, obwohl auch Songschrei­ber, nichts Neues kreieren. Eher trachtet er danach, dem Jazz „eine Emotionali­tät zu bringen, die vermisst wurde“.

Mit diesem Anspruch liefert er die Erklärung nicht nur für seinen, sondern vielmehr auch für den Kollegener­folg: Versteht man es, den Stil zu beleben wie Porter auf dem neuen Album One Night Only, pulverisie­rt man den Vorwurf, eine Kopie zu sein. Man zeigt, dass es sich innerhalb eines alten Stils individuel­l wie glaubwürdi­g bleiben lässt.

Wer Bublés aktuelle Einspielun­g Love hört, bleibt ja erstaunt beim Klassiker My Funny Valentine hängen: Bublé trifft den Tonfall delikat, wie auch Diana Krall im Duo mit Bennett fähig ist, Balladen zu schummrige­n Minidramen zu formen. Und auch Peyroux versteht es, ihren verschlafe­nen Gesangssti­l charmant erscheinen zu lassen. Die neue CD Anthem liefert atmosphäri­sche Belege.

So mögen sie alle ein bisschen klingen, als wären sie aus den spätern 1950er-Jahren rübergebea­mt worden, als Frank Sinatra Sings for Only the Lonely aufnahm, das nun überarbeit­et wieder vorliegt. Dennoch erfüllen Krall, Porter und Kollegen eine Funktion. Sie erwecken Repertoire, beleben Songs, die ohne sie nur durch alte Tonträger kennenzule­rnen wären.

Bublé sagt es so: „Ich darf für die nachfolgen­den Generation­en die amerikanis­chen Klassiker lebendig halten.“Argumente liefert ihm auch Gustav Mahler. „Das Beste der Musik steht nicht in den Noten.“Es braucht dazu besondere Interprete­n.

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