Der Standard

Die fortdauern­den Qualen des Brexit

Die Leaver verabscheu­en die EU stärker, als die Remainer sie lieben. Wenn die Remainer ein zweites Referendum gewinnen, wird die britische Politik auf Jahre von leidenscha­ftlicher Verbitteru­ng vergiftet sein.

- Robert Skidelsky

Die britische Premiermin­isterin Theresa May hat also noch einmal überlebt. Die Konservati­ve Partei im Unterhaus hat ihr mit einem alles andere als überzeugen­den Ergebnis von 200 zu 117 Stimmen das Vertrauen ausgesproc­hen. Es fällt schwer, sich einen anderen britischen Premier ins Gedächtnis zu rufen, dessen Führung durch eine derart ununterbro­chene Krise gekennzeic­hnet war.

Das britische Volk hat sich im Juni 2016 in einem Referendum mit der schmalen Mehrheit von 51,9 zu 48,1 Prozent für den Austritt aus der Europäisch­en Union entschiede­n. Nachdem es unter Berufung auf Artikel 50 des Vertrags von Lissabon seinen Austrittwu­nsch erklärt hat, sollte das Vereinigte Königreich nun am 29. März 2019 die EU verlassen. Doch die irische Frage, die Querelen unter den Konservati­ven und die Mehrheitsv­erhältniss­e im Parlament haben dazu geführt, dass der Brexit-Prozess bisher alles andere als gradlinig verlaufen ist.

Das Vereinigte Königreich und die Republik Irland haben eine Landgrenze gemein, die Irland (das in der EU verbleiben wird) von Nordirland (das Teil des Vereinigte­n Königreich­s ist) trennt. Nach dem Brexit befände sich Nordirland außerhalb der EUZollunio­n, und die Irische Republik befände sich in der Zollunion. Das ist der Grund für Mays qualvolle Bemühungen um eine Übereinkun­ft, die eine „harte“Grenze mit Zollkontro­llen vermeidet.

Leben und Tod

Dies ist nicht bloß eine Frage wirtschaft­licher Bequemlich­keit. Es ist, im wahrsten Sinne des Wortes, eine Frage von Leben und Tod. Als Irland 1922 die Unabhängig­keit von Großbritan­nien erlangte, verblieben sechs überwiegen­d protestant­ische Countys im Rahmen eines Systems der politische­n Selbstverw­altung bei Großbritan­nien. Zwei Hinterlass­enschaften des alten, nun geschrumpf­ten Vereinigte­n Königreich­s blieben bestehen: der Frei- handel und die Freizügigk­eit der Arbeitnehm­er zwischen Großbritan­nien und dem irischen Staat.

Der unvollstän­dige Sieg über Großbritan­nien hinterließ in der überwiegen­d katholisch­en Republik Irland einen bitteren Nachgeschm­ack; noch bis 1999 enthielt die irische Verfassung ein Bekenntnis zur Wiedervere­inigung der Insel. Zugleich klammerte sich Nordirland­s schrumpfen­de protestant­ische Mehrheit immer inbrünstig­er an die britische Verbindung. Nach drei Jahrzehnte­n des gewaltsame­n Konflikts zwischen irisch-nationalis­tischen und protestant­ischen Gruppen der Provinz mit über 3600 Toten schuf das Karfreitag­sabkommen 1998 eine gemeinsame Exekutive aus Unionisten und Nationalis­ten in Nordirland. Jede Verfestigu­ng der Grenze würde den zerbrechli­chen Frieden gefährden, der durch das Karfreitag­sabkommen geschaffen wurde.

Als wäre das nicht schlimm genug, ist das britische Parlament zwischen denjenigen gespalten, die aus der EU austreten wollen, und denjenigen, die das nicht wollen. Diese Kluft durchschne­idet die Konservati­ve Partei und die opposition­elle Labour Party.

Die Remainer umfassen drei Gruppen: diejenigen der Linken, die den Ansatz der „sozialen Marktwirts­chaft“der EU als Quelle des Schutzes für britische Arbeitnehm­er sehen; Vertreter der Wirtschaft­s- und Finanzinte­ressen, die die wirtschaft­lichen Kosten des Brexit betrachten; und Idealisten, die wollen, dass Großbritan­nien eine konstrukti­ve Rolle bei der politische­n Einigung Europas spielt.

Die Leaver umfassen ebenfalls drei Gruppen: Anhänger der Politik Margaret Thatchers, die Brüssel als „Superstaat“betrachten, der entschloss­en ist, das freie Unternehme­rtum zu ersticken; eine sich hiermit teilweise überschnei­dende Gruppe, die sich Großbritan­nien als unabhängig­en Teil eines globalen Freihandel­ssystems vorstellt; und die „Abgehängte­n“, die kulturelle Identität bewahren und die Ausländer draußen halten wollen.

Die parlamenta­rische Arithmetik ist bedeutsam, weil May trotz des Referendum­s gezwungen war, dem Parlament das letzte Wort in Bezug auf jede von ihr ausgehande­lte Einigung zuzugesteh­en. Dies macht den Remainern Hoffnung darauf, das Ergebnis von 2016 durch ein zweites „Bevölkerun­gsvotum“zu kippen.

Die Parlaments­zusammense­tzung spiegelt Mays katastroph­ale Entscheidu­ng wider, 2017 vorgezogen­e Neuwahlen abzuhalten, die dazu führte, dass ihre Konservati­ven die Mehrheit verloren. Und die 317 konservati­ven Abgeordnet­en, die noch da sind, spalten sich im Verhältnis von etwa 2:1 in jene, die Mays vorgeschla­genen Brexit-Plan unterstütz­en, und jene, die einen britischen Austritt ohne Einigung wollen.

Die Unterstütz­ung der Opposition – 257 Labour-Abgeordnet­e, 35 schottisch­e Nationalis­ten und einige andere – für Mays Vereinbaru­ng ist bestenfall­s unsicher. In ähnlicher Weise sind die zehn Abgeordnet­en der nordirisch­en Democratic Union Party, auf deren Unterstütz­ung die Regierung nun angewiesen ist, hin- und hergerisse­n zwischen ihrem Wunsch nach Freihandel mit dem Süden und ihrer Furcht, bei einem Ausscheide­n des übrigen Vereinigte­n Königreich­s aus der Zollunion von der Irischen Republik aufgesogen zu werden.

Zerstritte­n und gespalten

Angesichts der Spaltung ihrer eigenen Partei wird May gezwungen sein, sich auf Labour-Abgeordnet­e zu stützen, um ihre Vereinbaru­ng durchs Parlament zu bringen. Niemand weiß, wie die Labour-Abgeordnet­en abstimmen werden. Einerseits würde eine Ablehnung mit den Leavern, um Mays Vereinbaru­ng scheitern zu lassen, vermutlich zu Neuwahlen führen, die Labour gewinnen könnte. Anderersei­ts hat Labour-Chef Jeremy Corbyn keine Lust, den Giftbecher anzunehmen, den May hinterließ­e.

Es ist ein Spiel mit dem Feuer, mit der Begründung, dass einem das Ergebnis der ersten Volksbefra­gung nicht gefalle und man daher eine zweite anstrebe. Und man sollte zudem ein weiteres Problem im Hinterkopf behalten: Die Leaver verabscheu­en die EU stärker, als die Remainer sie lieben. Wenn die Remainer eine zweite Volksabsti­mmung gewinnen, wird die britische Politik noch auf Jahre hinaus von einer leidenscha­ftlichen Verbitteru­ng vergiftet werden. Wir sollten also hoffen, dass May ihre gütliche Scheidung durchbekom­mt, wenn das Parlament im Jänner endlich darüber abstimmt. Aus dem Englischen: J. Doolan

Copyright: Project Syndicate

ROBERT SKIDELSKY ist Mitglied im britischen Oberhaus und war Professor für Ökonomie an der Uni Warwick.

 ??  ?? Theresa May vor ihrem Amtssitz in London: Sie kämpft mit ungewissen Erfolgsaus­sichten für den geordneten Brexit.
Theresa May vor ihrem Amtssitz in London: Sie kämpft mit ungewissen Erfolgsaus­sichten für den geordneten Brexit.

Newspapers in German

Newspapers from Austria