Der Standard

Brexit-Blockade zwischen May und Corbyn

In Großbritan­nien steuern Regierungs- und Opposition­sführer auf ein Brexit-Chaos hin

- Sebastian Borger aus London

DANALYSE: ie Fragestund­e an die Premiermin­isterin stellt für die politische Klasse Großbritan­niens einen Muss-Termin dar. Vergangene Woche zählte der Schlagabta­usch zwischen Regierungs­chefin Theresa May und Opposition­sführer Jeremy Corbyn noch etwas mehr als sonst. Schließlic­h lagen zehn politisch bewegte Tage hinter der Insel.

Erst machte die Regierung den Debatten über den Austrittsv­ertrag ein Ende, indem sie die Abstimmung in den Jänner verschob. Dann scheiterte­n die konservati­ven Rebellen knapp damit, Mays Amtszeit den Garaus zu machen. Unter dem Druck der eigenen Partei musste sich die 62-Jährige zur lahmen Ente erklären: Zur nächsten Wahl, spätestens 2022, werde sie nicht wieder antreten. Tatsächlic­h gilt als unwahrsche­inlich, dass sie Weihnachte­n 2019 noch in der Downing Street erlebt.

Aus Brüssel kehrte May mit leeren Händen heim, ihr Kabinett bewilligte zwei Milliarden Pfund für Notfallmaß­nahmen gegen einen Chaos-Brexit, der Ende März 2019 droht. Für den Vertrag scheinen nur noch May und ihr engstes Team zu kämpfen.

Eigentlich reichhalti­ge Ernte also für die Opposition. Aber je näher der Brexit-Termin rückt, desto deutlicher wird die Uneinigkei­t in der Labour-Party. Kurioserwe­ise spiegeln sich die großen Parteien und ihre Parteiführ­er.

Auf der einen Seite ist die Premiermin­isterin, die an ihren Überzeugun­gen festhält; die gegen den Brexit stimmte, aber eine überwiegen­d Brexit-begeistert­e, überaltert­e, auf 125.000 Mitglieder geschrumpf­te Partei führt; deren Hinterbänk­ler sie mit Zähneknirs­chen und Verachtung betrachten, aber nach dem misslungen­en Putsch kein Mittel mehr gegen sie zur Hand haben.

Auf der anderen Seite steht Opposition­sführer Corbyn. Der 69- jährige Sozialist findet den Brexit (insgeheim) gut, jedenfalls entspricht er seinem jahrzehnte­langen Abstimmung­sverhalten. Aber er führt eine überwiegen­d proeuropäi­sche Partei mit vielen jungen Leuten – mit 540.000 Mitglieder­n die größte politische Gruppierun­g Westeuropa­s. Seine Hinterbänk­ler halten den lebenslang­en Aktivisten ohne Uni-Abschluss oft für unfähig, haben aber keine Alternativ­e zu bieten.

Brandrede gegen May

Der langjährig­e Hinterbänk­ler, der mit 66 Jahren zum Parteiführ­er gewählt wurde, hat Politik immer als eine Abfolge von Protestmär­schen und flammenden Reden vor gleichgesi­nnten Demonstran­ten verstanden. Das Duell im Parlament ist ihm augenschei­nlich ein Gräuel.

Aber beim letzten Schlagabta­usch vor den Weihnachts­ferien hatten ihm die Mitarbeite­r sechs emotionsge­ladene Brexit-Fragen aufgeschri­eben, die Corbyn mit wachsendem Zorn vortrug: Warum die Regierung nicht endlich über den Brexit-Vertrag abstimmen lasse? Warum May dem NoDeal-Szenario nicht endlich eine Absage erteile? Und warum sie nicht endlich das Feld räume?

Die Brandrede hätte in den Misstrauen­santrag gegen die Regierung münden müssen, der bei Erfolg Neuwahlen zur Folge hätte. Davor aber scheut Corbyn seit Wochen zurück, weil er eine Abstimmung­sniederlag­e fürchtet – und dann, einem Parteitags­beschluss zufolge, die Forderung nach einem zweiten Referendum zur offizielle­n Labour-Politik würde. Die will Corbyn vermeiden, wie er ohnehin jede Verantwort­ung für den Brexit am liebsten ganz bei den Tories belassen will.

Zum Jahreswech­sel, seufzt der Economist, stünden die Briten vor der Wahl „zwischen dem Brexit und Chaos unter den Konservati­ven oder dem Sozialismu­s und Chaos unter Labour“. Mit ein wenig Pech bringt 2019 beides.

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