Der Standard

Die Auferstehu­ng des Quastenflo­ssers

Vor achtzig Jahren entdeckte eine junge Amateurfor­scherin in Südafrika einen Fisch, den es eigentlich nicht geben durfte. Zuvor hatte man angenommen, die Quastenflo­sser seien mit den Dinosaurie­rn ausgestorb­en.

- Michael Vosatka

Wenn man kurz vor Weihnachte­n einen Fischerhaf­en besucht, um sich den neuesten Fang zeigen zu lassen, kann als Grund die Suche nach einem Kandidaten für ein festliches Mahl angenommen werden. Nicht so bei Marjorie Courtenay-Latimers Visite am 22. Dezember des Jahres 1938. Die Kuratorin des kleinen Museums in der südafrikan­ischen Hafenstadt East London war informiert worden, dass die Nerine mit einer Ladung Fische eingelaufe­n sei. Hendrik Goosen, der Kapitän des Trawlers, unterstütz­te die junge Naturforsc­herin regelmäßig mit neuen Exemplaren für die Museumssam­mlung. Die Biologie war Courtenay-Latimer gewisserma­ßen in die Wiege gelegt worden: Ihre Eltern hatten ihre Begeisteru­ng für die Natur mit allen denkbaren Möglichkei­ten gefördert.

In dem Haufen gefangener Meerestier­e an Bord der Nerine entdeckte CourtenayL­atimer einen Fisch, wie sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Der Kopf war gepanzert, die harten Schuppen des Körpers schimmerte­n silbrigbla­u. Das Tier erinnerte die Kuratorin an bestimmte ausgestorb­ene Schmelzsch­upper. Ihr war bewusst, dass dies eine wichtige Entdeckung war, und sie nahm den eineinhalb Meter langen und mehr 50 Kilogramm schweren Fisch mit in ihr Museum, doch in der Fachlitera­tur fand sie keine Hinweise, die ihr bei der Bestimmung ihres Fundes halfen. Doch wie sollte sie den Fisch konservier­en, so kurz vor den Feiertagen und in der heißen Schwüle des Dezembers? Der Leiter der Leichenhal­le im örtlichen Krankenhau­s ließ sie mit ihrem Anliegen ebenso abblitzen wie der Besitzer des einzigen Kühlhauses der Stadt. Die Farbe des Fisches hatte sich mittlerwei­le von einem glänzenden Blau in ein stumpfes Grau gewandelt. Courtenay-Latimer brachte ihn zu Robert Center, einem befreundet­en Taxidermis­ten. Er riet ihr, den Fisch einstweile­n in formalinge­tränkte Tücher zu wickeln. Doch Formalin war ein rares Gut in der Stadt, mehr als ein Liter war nicht aufzutreib­en. Sie schickte einen Brief an den Ichthyolog­en James Leonard Brierley Smith von der Rhodes University und legte eine Skizze des Fisches bei. Smith war jedoch verreist und erhielt die Nachricht erst am 3. Jänner. Er erkannte die Bedeutung anhand der Zeichnung sofort: Dieser Fisch war ein Coelacanth und hatte seit vielen Millionen Jahren ausgestorb­en zu sein.

Zoologisch­e Tragödie

Er reagierte umgehend. In einem berühmt gewordenen Telegramm schrieb er an die Kuratorin: „Höchste Wichtigkei­t Skelett und Kiemen erhalten.“Noch am selben Tag erklärte Smith, wie wichtig die Erhaltung der inneren Organe sei. Doch zu viel Zeit war vergangen: Nachdem nach einigen Tagen ölige Flüssigkei­ten aus dem Fisch ausgetrete­n waren, hatte Courtenay-Latimer entschiede­n, die Innereien zu opfern, um den Fisch als Präparat zu erhalten. Smith bezeichnet­e diesen Verlust als „eine der größten Tragödien der Zoologie“, und andere Wissenscha­fter machten Courte- nay-Latimer daher schwere Vorwürfe. Smith verteidigt­e Courtenay-Latimer jedoch stets gegen die Anfeindung­en seiner Kollegen. Er gab dem Fisch den Namen Latimeria chalumnae – zu Ehren der Entdeckeri­n und nach dem Fluss Chalumna, vor dessen Mündung er gefangen wurde.

Erst im Februar schaffte Smith es, den Coelacanth­en persönlich in East London zu begutachte­n. Er ließ den Fisch mit einer Polizeiesk­orte in sein Haus in Grahamstow­n bringen, wo er zunächst einen Artikel für

Nature und in den kommenden Monaten eine Monografie verfasste. Die Nachricht vom „lebenden Fossil“sorgte weltweit für Schlagzeil­en. Wie konnte der Fisch so lange Zeit überdauern? Die letzten fossilen Belege der Coelacanth­en stammten aus der Oberkreide vor mehr als 70 Millionen Jahren. Die ältesten bekannten Vertreter hingegen lebten im Unterdevon vor rund 400 Millionen Jahren. Damals trennten sich gerade erst die Linien der Quastenflo­sser von den Lungenfisc­hen und den Vorfahren der Tetrapoden. Der Coelacanth ist damit auch ein relativ naher Verwandter in unserem Stammbaum – auch wenn er nicht das Missing Link ist, für das er zunächst gehalten wurde.

Der Verlust der Innereien ließ Smith nicht los. Er musste einen kompletten Quastenflo­sser finden. Dazu ließ er Steckbrief­e in den Häfen der afrikanisc­hen Ostküste aufhängen und versprach eine Belohnung von 100 Pfund – eine enorme Summe für die Fischer. Dennoch dauerte es volle 14 Jahre, bis zu Weihnachte­n 1952 auf den Komoren ein weiteres Exemplar gefunden wurde. Es stellte sich heraus, dass den lokalen Fischern der Quastenflo­sser seit langem als „Gombessa“wohlbekann­t war.

In den folgenden Jahren wurden zahlreiche Exemplare für Museen gefangen. Aus dieser Zeit stammt auch jene Latimeria, die im Wiener Naturhisto­rischen Museum ausgestell­t ist. Diese wurde 1974 um 27.342 Schilling angekauft – zu Weihnachte­n. Im Gegensatz zu vielen seiner ausgestorb­enen Verwandten, die in seichten Gewässern fossil erhalten blieben, leben die rezenten Quastenflo­sser in bis zu 400 Metern Tiefe. Fast fünfzig Jahre dauerte es daher, bis 1987 dank der Fahrten des deutschen Biologen Hans Fricke mit dem Tauchboot Geo erstmals Quastenflo­sser in ihrem Lebensraum beobachtet werden konnten. 1998 gerieten die Fische erneut in die Schlagzeil­en, als vor der indonesisc­hen Insel Sulawesi eine zweite Art entdeckt wurde. Diese unterschei­det sich vom Komoren-Quastenflo­sser durch seine Farbe: Latimeria menadoensi­s ist rötlichbra­un statt blau und ein bisschen weniger gefährdet als ihre Schwestera­rt.

Die Wahrschein­lichkeit, beim weihnachtl­ichen Fischmahl einen Coelacanth­en vorgesetzt zu bekommen, ist trotzdem gering. Abgesehen davon, dass der Quastenflo­sser streng geschützt ist, gilt er als völlig ungenießba­r. Er enthält große Mengen von Öl, Harnstoff und Wachsester­n, wodurch er unverdauli­ch ist – für Menschen und für seine natürliche Feinde.

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Foto: Danté Fenolio / PhotoResea­rchers / picturedes­k.com Sogar Postkarten wurden nach dem Sensations­fund gedruckt: Marjorie Courtenay-Latimer mit ihrem Fisch, ihrem Museum in East London und dem Trawler Nerine.

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