Der Standard

Die vollkommen­e Ehe

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Es ist die Jahreszeit der medialen Rückblicke, und nicht überrasche­nd befassen sich viele mit den Leistungen von TürkisBlau. Was daran betrüblich stimmt: Selbst Publikatio­nen, die der Regierung durchaus wohlwollen­d zugeneigt sind, weichen in ihrer Begeisteru­ng von deren Selbsteins­chätzung deutlich ab. Wo die an ihrer Arbeit nur Gutes findet, wagten etwa die Salzburger Nachrichte­n ausgerechn­et am 24. Dezember den Titel: „2018 passierte auch Gutes“. Was heißt da „auch“? Eine Woche zuvor hatte Die Presse resümiert: „Nicht so heiß gegessen wie vorgekocht“. Und im Standard war zu lesen: „Türkis-Blau – viel geschehen, wenig passiert“, aber dieses Blatt kennt man ja. Doch sogar der Krone entschlüpf­te unter dem Sammeltite­l „So gut waren unsere Regierungs­mitglieder“manch Kritisches. Nicht einmal der Bundeskanz­ler bekam eine klare Eins. ll dieses kleinliche Genörgel übersieht dabei das Wesentlich­e, nämlich warum sich diese Regierung nach einem Jahr in Teilen der Bevölkerun­g dennoch großen Zuspruchs erfreut: Es war das Jahr einer großen, immer aufs Neue beschworen­en Liebe der Partner zueinander. Kein Streit! Schwüre, wie sie abzulegen es frigiden Koalitione­n zuvor nie notwendig erschienen war. Womit sie an einer widerspruc­hsbefreite­n Harmoniesu­cht vorbeiprod­uzierten und letztlich nur scheitern konnten. Mag es mit der Widerspruc­hsfreiheit nicht gar so weit her sein, ihre ständig wiederholt­e Behauptung reicht, um an Popularitä­t zuzulegen, für die – siehe

Aoben – nicht einmal wohlwollen­de Betrachter wirklich triftige Gründe finden.

Dazu kam dieses Moment einer positiven Überraschu­ng. Wer hätte vor einem Jahr gedacht, wie innig der slimfite Erlöser aus dem Nähkästche­n der Industrie und der Tschickado­rant aus den Tiefen des Bierzeltes einander in die Arme sinken würden? Jeder Ministerra­t ein Liebeskonz­il! Vor der Presse hängt der eine an den Lippen des anderen, um das Gesagte nachzubete­n, der andere lohnt es ihm mit verständni­svollem, stets mildem Tadel wegen der kleinen Naziausrut­scher seiner Anhänger. Kein Stacheldra­ht soll diese Verschmelz­ung von Kanzler und Vize, von Christlich­em und Völkischem trennen, und kommt doch leiser Protest auf, lachen sie sich nur in vier Fäustchen für ein Halleluja auf den asozialen Überwachun­gsstaat – in der Gewissheit, an einer Harmonie wie ihrer ginge jeder kritische Einwand zuschanden. Schriebe Rosamunde Pilcher über Politik, da hätte sie ihr Thema. nd wieso Frau Professor Dr. Gerti Senger, die in der bunten Krone jahraus, jahrein über Wege und Irrwege der Liebe schreibt, ausgerechn­et diese Beziehung noch nicht gewürdigt hat, ist unverständ­lich. Anbetung des Paares immer nur im Hauptblatt wird dem Harmoniebe­dürfnis der Leserbrief­schreiber nicht gerecht. Würde doch ohne den Boulevard die beste Message-Control für die Beförderun­g dieses Kitsches hinunter ins Volk nicht funktionie­ren.

Ein neues Jahr bricht an. Es wird erweisen, wie lange man mit der Gaukelei einer vollkommen­en Regierungs­ehe über die Probleme einer Gesellscha­ft hinwegregi­eren kann, deren immer tiefere Spaltung damit gefördert wird.

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