Der Standard

Brasiliens evangelika­ler Kulturscho­ck

Am 1. Jänner tritt Jair Bolsonaro das Präsidente­namt in Brasilien an – Schon jetzt fühlen sich politisch Andersdenk­ende verfolgt

- Susann Kreutzmann aus São Paulo

Brasiliens neuer Präsident ist noch nicht im Amt und hat doch schon die Stimmung im Land verändert. Der von Jair Bolsonaro angekündig­te „große Kulturwand­el“wirkt bereits – in Form von Angst, Aufrufen zum öffentlich­en Denunziant­entum und hemmungslo­ser Verbreitun­g von Fake-News über politisch Andersdenk­ende. Brasilien, das einst als gelassen und tolerant galt, erlebt jetzt eine Welle von Hass und Aggressivi­tät. Ein Teil der rechten Revolution ist das Projekt „Schule ohne Partei“(Escola sem Partido), mit dem staatliche Schulen und Universitä­ten ideologisc­h umgekrempe­lt werden sollen.

„Lasst uns filmen, was in euren Klassenzim­mern passiert“, ruft der Präsident in einem wackligen Handyvideo Brasiliens Schüler auf. Lehrer, die sich politisch äußern, gehören genauso an den Pranger wie solche, die mit sexueller Aufklärung „klassische Familienwe­rte“zerstören wollen. Das Projekt „Schule ohne Partei“hat der ehemalige Fallschirm­springer Bolso- naro zu seiner Herzensang­elegenheit auserkoren. Bald sollen in jedem Klassenzim­mer Warntafeln mit sechs Grundregel­n hängen: So gibt es unter anderem keinen Sexualkund­eunterrich­t und keine Diskussion­en über Gender-Fragen mehr.

Angst im Klassenzim­mer

Seit Monaten wird das hochumstri­ttene Projekt im Kongress beraten. Ob eine Mehrheit dafür zustande kommt, ist unklar. Doch angesichts des Tatendrang­s von Bolsonaro traut sich schon jetzt kein Lehrer mehr, kritische Diskussion­en anzustoßen. Lehrer hätten ihren Job verloren, weil sie sich außerhalb der Schule politisch geäußert hätten, sagt Fernando de Araújo Penna von der Universitä­t in Rio de Janeiro (UFF). Lehrer sollten künftig nur noch Wissen vermitteln dürfen, aber keine Werte mehr: „Das ist absurd und gegen die Meinungsfr­eiheit.“

Neuer Bildungsmi­nister ist Ricardo Vélez Rodríguez, ein ehemaliger Professor einer Militärhoc­hschule. Vor Jahren nannte der heute 75-Jährige den Militär- putsch in Brasilien von 1964 eine „begrüßensw­erte Revolution“. Jetzt will er, dass auch in den Schulen endlich die Zeit der Diktatur – von 1964 bis 1985 – als die fortschrit­tlichste Periode dargestell­t wird.

Rodríguez fügt sich gut in die 22-köpfige Ministerri­ege ein, die von Ex-Militärs dominiert wird. Im Kabinett sind sie unter anderem für die Ressorts Verteidigu­ng, Wissenscha­ft und Technologi­e, Bergbau und Energie, Infrastruk­tur sowie Sicherheit zuständig.

Nur zwei Frauen finden sich in Bolsonaros Regierung. Bei Aktivisten sorgt vor allem die Berufung von Damares Alves, einer streng evangelika­len Juristin, als Ministerin für Frauen, Familie und Menschenre­chte für Empörung. Sie ist Abtreibung­sgegnerin und steht der Organisati­on „Bewegung für das Leben“vor. Offizielle­n Institutio­nen wirft sie vor, die Zahlen über Todesfälle von Frauen nach verpfuscht­en Abtreibun- gen zu manipulier­en. Es gebe nur einen Platz, in dem das Kind geschützt sei, und das sei die Kirche, sagt die evangelika­le Pastorin. Die zweite Frau im Kabinett ist die Agrarunter­nehmerin Tereza Cristina Corrêa da Costa – zuständig für Landwirtsc­haft. Sie vertrat schon als Abgeordnet­e die mächtige Agrarlobby und wird von ihren Kritikern „Gift-Muse“genannt, weil sie ein Gesetz zum erleichter­ten Einsatz von Pestiziden durchsetze­n will.

Auch die mittlerwei­le in die Jahre gekommenen „Chicago Boys“haben ihren Einfluss. Das neue Superminis­terium für Wirtschaft und Finanzen wird von dem 69jährigen Ex-Investment­banker Paulo Guedes geführt, der Brasilien eine neoliberal­e Radikalkur verordnen will. Dazu gehören vor allem Privatisie­rungen und ein Ende der „linken Umverteilu­ngspolitik“, also das Kürzen von Sozialleis­tungen. Von Wirtschaft­svertreter­n wird die Nominierun­g von Guedes indes hoch gelobt. Guedes war es, der im Wahlkampf die Stimmen der skeptische­n Wirtschaft­s- und Finanzlobb­y für Bolsonaro sicherte.

Denn bislang war Brasiliens neuer Präsident, der 27 Jahre Abgeordnet­er war, nicht durch ökonomisch­e Expertise, sondern vor allem durch rassistisc­he und homophobe Äußerungen aufgefalle­n. Jahrelang hat er den einzigen offen homosexuel­len Abgeordnet­en Jean Wyllys von der Linksparte­i PSOL beleidigt und ihm Worte wie „Schwuchtel“im Parlament hinterherg­erufen.

Jagd auf Homosexuel­len

Schon im Wahlkampf wurde Wyllys Opfer übler Falschmeld­ungen, die Bolsonaro-Anhänger über die sozialen Medien verbreitet­en. Mit dem Sieg ihres Idols verstärkte sich die Jagd auf Wyllys. Ihn erreichen zahlreiche Morddrohun­gen. Der Kongress stellte ihm Personensc­hutz zur Verfügung. Dennoch traut er sich kaum aus dem Haus. „Ich fürchte um mein Leben“, sagt Wyllys. Und er hat Angst um Brasiliens Zukunft.

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Foto: AFP/Pimentel Bolsonaro will, dass in den Schulen wieder Sitte herrscht.

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