Der Standard

Die Tournee und ihre neue Sonne

Die in den vergangene­n Saisonen dominieren­den Skisprungn­ationen werden bei der 67. Vierschanz­entournee von einem 22-jährigen Japaner gefordert. Die Österreich­er schauen quasi fußfrei zu, aber eher nicht erste Reihe.

- Sigi Lützow aus Oberstdorf

In Oberstdorf, das ist eine der seltenen Gewissheit­en in einer Sportart, die einen Teil ihrer Spannung aus dem Ungewissen zieht, kann die Vierschanz­entournee nicht gewonnen, wohl aber verloren werden. Auch wenn die 67. Auflage des deutsch-österreich­ischen Jahreswech­selzeitver­treibs am Sonntag (ab 16.30 Uhr, ORF 1) im Oberallgäu abhebt, gilt dieses Bonmot, wie ja auch das Bonmot des Oberstdorf­er Ehrenbürge­rs und Eiger-NordwandEr­stbesteige­rs Anderl Heckmair gilt, wonach Bier, in Maßen genossen, auch in großen Mengen nicht schadet.

Es wird auf der Schattenbe­rgschanze also vor allem wieder darum gehen, wer sich tatsächlic­h Favorit auf den Gesamtsieg und also auf einen Goldadler auf Marmorsock­el und lediglich 20.000 Euro nennen darf. Der letzte Springer, der es zum Auftakt nicht unter die besten zehn schaffte, dann aber dennoch drei Konkurrenz­en später den Gesamtsieg bejubelte, war ein gewisser Ingolf Mork. Der Norweger jubelte allerdings relativ verhalten, hieß doch der Sieger der Herzen der 20. Tournee, die übrigens in Innsbruck begonnen hatte, Yukio Kasaya.

Der Japaner musste nach drei Tageserfol­gen wie die gesamte Mannschaft auf Geheiß der Teamführun­g abreisen, um sich auf die olympische­n Heimspiele in Sapporo vorzuberei­ten. Der spätere Normalscha­nzenolympi­onike fiel nicht nur um den Tourneesie­g, sondern auch um die Ehre um, als Erster alle vier Springen einer Tournee zu gewinnen.

Heute ist Kasaya 75 Jahre alt und wie alle seine sprungaffi­nen Landsleute gespannt, ob Ryoyu Kobayashi die Nerven hat, der zweite japanische Tourneesie­ger nach Kazuyoshi Funaki (1998) zu werden. Der 22-jährige Sohn eines Sportlehre­rs aus der Präfektur Iwate auf der Hauptinsel Honshu, dem etwa Anton Innauer „eine atemberaub­ende Verfassung“bescheinig­t, treibt die Etablierte­n im Weltcup derzeit vor sich her. Kobayashi, dessen älteren Geschwiste­r Junshiro und Yuka ebenfalls Ski springen, liegt nach vier Ein- zelsiegen und zwei dritten Plätzen aus sieben Springen schon 111 Zähler vor dem zweitplatz­ierten Polen Piotr Żyła und schickt sich also an, der erste japanische Gesamtwelt­cupsieger zu werden.

Sein finnischer Coach Janne Väätäinen führt Kobayashis Leistungss­prung einerseits auf die Ernsthafti­gkeit zurück, mit der der junge Mann seinen Sport neuerdings betreibt. Anderersei­ts habe Kobayashi wegen seiner speziellen Anfahrtsho­cke und seines Vermögens, den Radius zu nützen, einen technische­n Vorsprung. Kein anderer Athlet komme derzeit so schnell in die optimale Flughaltun­g wie er.

„Er ist das Maß der Dinge, hat Wettkämpfe mit freiwillig­er Verkürzung und auch ohne Telemarkla­ndung gewonnen. Das spricht für seine momentane Überlegenh­eit, ist aber keine Garantie, dass es so weitergehe­n muss“, sagt Innauer, der es als großen Vorteil bewertet, dass im Team der Routinier aller Routiniers, Noriaki Kasai, als Ratgeber fungieren kann. Für sich selbst wird der 46-Jährige in seiner 29. Tournee nicht viel bewegen.

Kobayashi und den ebenfalls stark in die Saison gestartete­n russischen Sommer-Grand-Prix-Sieger Jewgenij Klimow in Zaum zu halten, wird am ehesten Kamil Stoch zugetraut. Der 31-jährige Dreifachol­ympionike aus Polen strebt den dritten Tourneesie­g en suite an. In der vergangene­n Saison wiederholt­e er des Deutschen Sven Hannawalds Kunststück von 2001/02, alle vier Springen für sich zu entscheide­n. Stoch fehlt in diesem Winter zwar noch ein Weltcuperf­olg, er hat sich aber bei den nationalen Meistersch­aften durchgeset­zt und funktionie­rt nach Dafürhalte­n seines Trainers Stefan Horngacher wie kein anderer, wenn es darauf ankommt. „Wenn der Tag X kommt, kann er den Schalter umlegen und macht noch einen Schritt nach vorn.“

Den Norwegern mangelt es an der Konstanz, den Deutschen nach Meinung der strengen Legende Jens Weißflog an einem Typen „für ganz vorne“.

Damit ist Trainer Werner Schuster, der die Deutschen seit 2008 betreut und es nach dieser Saison sein lassen dürfte, aber immer noch um Welten bessergest­ellt als Kollege Andreas Felder. Österreich­s Chefcoach hatte zwei Tage vor dem Trainingss­tart in Oberstdorf gerade erst die Hälfte seines Tourneeauf­gebots zusammen. Beim Kontinenta­lcup in Engelberg, wo sieben Mann um drei Plätze sprangen, buchten Markus Schiffner und Philip Aschenwald mit Tagessiege­n. Zu den gesetzten Stefan Kraft, Michael Hayböck und Daniel Huber wurde auch noch Manuel Fettner genannt.

Die gebeutelte­n Österreich­er haben nicht viel zu verteidige­n – Tourneepla­tz 14 für Hayböck aus der Vorsaison – aber eine HeimWM vor sich und einen Excheftrai­ner (Alexander Pointner) im Nacken, der in Kolumnen stets weiß, wie es besser geht. Mario Stecher, der neue Sportchef, bereitet die Anhängersc­haft auf jahrelange­s Hinterhers­pringen vor und versucht, aktuell den Druck wegzunehme­n. „Die Öffentlich­keit erwartet nicht etwas Großartige­s.“Die Österreich­er sind in Oberstdorf also die Einzigen, die nichts zu verlieren haben.

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Foto: APA/AFP/Lehtikuva Kamil Stoch strebt den Hattrick an Gesamtsieg­en bei der Tournee an.
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