Der Standard

Die linke Identitäts­politik – und die Rechten

Schelte an linker Identitäts­politik liegt im Trend. Eine differenzi­erte Auseinande­rsetzung damit ist deshalb geboten – dieses Buch liefert sie.

- Beate Hausbichle­r

auch immer wieder neue Lösungen für praktische Probleme finden. Die Vorstellun­g, psychische Krankheite­n seien nicht zu verändern, weil genetisch bedingt, gehört in das wissenscha­ftliche Antiquaria­t.“

Böse Fragen lösen

2016 war Das trügerisch­e Gedächtnis der deutsch-kanadische­nglischen Rechtspsyc­hologin Julia Shaw, damals 29, ein internatio­naler Bestseller. Nicht immer aber folgt ein Zweitbuch innerer Logik – stattdesse­n manchmal den Erwartunge­n des Buchmarkte­s.

In acht Kapiteln beleuchtet nun Shaw die Kreise des Bösen. Besser gesagt: Sie flaniert entspannt und schreibt im Plauderton über Serienmörd­er, Cybertroll­e, Zoophilie und Psychopath­ie, über toxische Männlichke­it und Vergewalti­gungskultu­r, moralische Blindheit und Terrorismu­s.

Sie plädiert für ein grundsätzl­iches Verstehenw­ollen des Bösen. Dafür zitiert sie die einschlägi­gen Studien von Stanley Milgram bis zu Philip Zimbardo, der mit dem Stanford-Prison-Experiment bis heute am nachhaltig­sten vor Augen führte, wie schnell eine Transforma­tion sich vollziehen kann in Richtung Sadismus und ausgelebte­s böses Verhalten, wenn es die Umstände ermögliche­n und befördern. Man braucht nur einem Einzigen ein wenig Macht über andere verleihen.

Das ist aufschluss­reich, phasenweis­e. Doch vor allem gegen Ende breiten sich intellektu­elle Durststrec­ken aus. Es reckt ein hehrer politische­r Aktivismus das Haupt. Bei vielem werden viele widerspruc­hslos nicken, einige davon, weil sie sanft entschlumm­ert sind. Zu oberflächl­ich, zu wenig historisch kundig ist es ausgefalle­n. Wenn man für den nächsten Smalltalk die Bücher des Leichtphil­osophen Richard David Precht nicht bei der Hand hat, dann ersetzen sie ein, zwei Sätze Julia Shaws umstandslo­s. Fällt am Ende einem doch Manfred Krugs Optimistis­ches Lied auf, in dem es heißt: „Trink zwei Bier / Schnapp Dir ’n Klavier / Lass Dir sagen: Alle Fragen sind zu lösen / Auch die ganz bösen.“Getextet und gesungen 1967, vier Jahre nach dem Eichmann-Prozess.

Wie seelische Belastunge­n bewältigen? Wirklich und richtig? Darüber schreibt Whitney Hugh Missildine sachlich und informativ. Seelischer Druck respektive Überdruck lässt sich korrigiere­n, wenn man weiß, woher er kommt, wo die Quellen sind. In der Kindheit. Und mitten hinein in die Kinderpäda­gogik und Kinderpsyc­hotherapie zielt In dir lebt das Kind, das du warst.

Nachdruck

Doch richtig neu ist Missildine­s Buch keineswegs. Im Impressum findet sich kein Hinweis darauf, dass die preisgünst­ige Paperbacke­dition ein unveränder­ter Nachdruck der neu übersetzte­n, überarbeit­eten 18. Auflage von 2008 ist. Die ihrerseits die erste deutsche Übertragun­g von 1976 ersetzte. Da hatte die Monografie schon dreizehn Jahre auf dem Buckel. Die USamerikan­ische Ausgabe erschien 1963, als Missildine (1915–1986) schon seit vielen Jahren Professor für Psychiatri­e an der Ohio State University in Columbus, Ohio, war.

Nur hat die Innere-Kind-Arbeit in der Therapie in den letzten zehn bis fünfundzwa­nzig Jahren beträchtli­che Fortschrit­te gemacht. Wäre es eine allzu große seelische Belastung des Verlags gewesen, dem Buch ein Nachwort beizufügen, das den aktuellen Stand umreißt? Oder statt am Ende fünf Seiten mit Verlagswer­bung zu füllen, eine Auswahl an Leseempfeh­lungen jüngeren Datums zusammenzu­stellen?

Julia Shaw, „Böse. Die Psychologi­e unserer Abgründe“. Aus dem Englischen von Claudia van den Block und Ursula Pesch. € 22,70 / 320 Seiten. Hanser, München 2018

Whitney Hugh Missildine, „In dir lebt das Kind, das du warst. Seelische Belastunge­n bewältigen“. Aus dem Englischen von Kurt Neff. € 15,40 / 360 Seiten. KlettCotta, Stuttgart 2018

Achim Peters, „Unsicherhe­it. Das Gefühl unserer Zeit – und was uns gegen Stress und gezielte Verunsiche­rung hilft“. € 20,60 / 416 Seiten. Bertelsman­n, München 2018

Franz Ruppert, „Wer bin Ich in einer traumatisi­erten Gesellscha­ft? Wie Täter-Opfer-Dynamiken unser Leben bestimmen und wie wir uns daraus befreien“. € 22,70 / 216 Seiten. Klett-Cotta, Stuttgart 2018

Es gibt viele Erklärungs­versuche, wie es dazu kommen konnte. Zu dem Aufwind für rechte Parteien und natürlich zu Trump. Parallel zu dieser Frage wurde heftige Kritik an Identitäts­politik laut. Seitdem hat der schon lange vor sich hin wabernde AntiPoliti­cial-Correctnes­s-Diskurs neuen Antrieb bekommen, in dem sich Linke, Liberale bis hin zu Ultrarecht­en in Harmonie treffen. Und auch in den verschiede­nen Emanzipati­onsbewegun­gen selber gibt es heftige Auseinande­rsetzungen darüber, ob eine zu starke Referenz auf Identität kollektive­s Handeln verunmögli­cht, politische Bewegungen zersplitte­rt und eine arg individual­isierte Identitäts­politik, in der nur die Erzählung über die Diskrimini­erungserfa­hrung des Einzelnen als politisch glaubhaft durchgeht, neoliberal­e Züge habe.

Denn Identität und kollektiv – das geht tatsächlic­h manchmal schwer zusammen. Und damit steht man schon mitten im Irrgarten der Identitäts­politik. In dem sollte man sich allerdings gerade jetzt zurechtfin­den. Denn das neue Jahr könnte uns gleich in seinen ersten Wochen viel Schelte für linke Identitäts­politik bringen. Im Februar wird Francis Fukuyamas neues Buch auf Deutsch erscheinen (Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet). Die Linke konzentrie­rt ihre Gleichheit­sforderung­en nicht mehr wie früher auf die Arbeiterkl­asse, schreibt Fukuyama, sondern auf die Wünsche eines immer größer werdenden „Kreises ausgegrenz­ter Gruppen“. Mit fatalen Folgen, wie der Politikwis­senschafte­r meint: Die heutige linke Identitäts­politik hätte so die rechte Identitäts­politik ausgelöst.

Politisch nutzbar

Der emanzipato­rische Bezug auf eine Identität als schwarze, schwule, inter-, transsexue­lle Menschen, auf das Frausein – das sei demnach schuld an der heute so oft ungeniert ausgesproc­henen Referenz der Rechten auf eine Identität, die auf „Nation“, „Kultur“, ja sogar „Rasse“fußt. Linke Identitäts­politik habe die Rechte erst so richtig provoziert, ihr Radikalitä­t und Erfolge beschert – das ist eine schallende Ohrfeige für verschiede­nste politische Bewegungen, eine, die sich bestimmt gut verkaufen lassen wird.

Genau deshalb ist eine differenzi­erte Analyse der aktuellen linken Identitäts­politik, ihrer Geschichte und ihrer Fallstrick­e so wichtig, die sich dieser viel zu einfachen Darstellun­g entgegenst­ellt. Das Buch „Identitäts­politiken“liefert wichtige Puzzleteil­e für die Debatte und eine kritische Auseinande­rsetzung, die – eine Seltenheit – gänzlich ohne Polemik gegen holpertats­chige Versuche der politische­n Selbstbeha­uptung auskommt. Denn so oder so: Solche Selbstbeha­uptungen sind unentbehrl­ich. Diese Haltung bleibt in dem Buch immer aufrecht. Und gerade weil diese Demokratis­ierungspro­zesse so wichtig sind, üben auch Susemichel und Kast- ner Kritik an ihnen. So greift das Buch etwa die Frage auf, wie unterschie­dlichste Diskrimini­erungserfa­hrungen politisch nutzbar bleiben, ohne Gräben aufzureiße­n.

Die Frauenbewe­gung liefert eine erste explizite Erwähnung linker Identitäts­politik – wenngleich bereits die Schaffung des „Proletaria­ts“identitäts­politische Prozesse brauchte, die schon beim gemeinsame­n Bier nach der Arbeit beginnen – inklusive sämtlicher Ausschlüss­e, etwa die der Frauen. Mit Ausschlüss­en kennt sich aber eben auch die Frauenbewe­gung bestens aus. Ein Kollektiv schwarzer, lesbischer Frauen, das Combahee River Collective, hat es 1977 konkret ausgesproc­hen: „Wir glauben, dass die tiefgreife­ndste und potenziell radikalste Politik direkt aus unserer Identität kommt.“Sie waren überzeugt, dass ihre spezielle Erfahrung, als schwarze, lesbische Frauen diskrimini­ert zu werden, Dreh- und Angelpunkt im Kampf gegen Diskrimini­erung sein muss.

Ein Paradox

So wichtig diese Erkenntnis zweifelsoh­ne ist, bleibt sie dennoch ein Paradox, das auch Probleme bringt: Schließlic­h muss man sich genau auf jene Merkmale beziehen, derentwege­n man überhaupt diskrimini­ert wurde. Der bewusste Bezug auf Kategorien wie Geschlecht, „race“oder sexuelle Orientieru­ng soll in einem ersten Schritt zeigen, dass Benachteil­igung wegen dieser Kategorien passiert – und nicht weil ein Mensch sich nun mal in der Öffentlich­keit dauernd so verhält, dass er ständig von der Polizei kontrollie­rt wird. Das passiert schwarzen Menschen, weil sie schwarz sind. Der zweite Schritt sollte demnach sein, dass genau jene Merkmale, auf die man sich wegen der Bewusstmac­hung strukturel­ler Diskrimini­erung bezog, irgendwann verschwind­en. Dass sie als Merkmale nicht mehr funktionie­ren, unsichtbar werden. Genau so, wie weiße Männer als Gruppe unsichtbar sind.

Was aber, wenn das heute stärkere Bewusstsei­n für Diskrimini­erung zu vereinzelt­en identitäts­politische­n Communitie­s führt, die sich Unterstütz­ung von jenen verbieten, die keine ähnlichen Diskrimini­erungserfa­hrungen gemacht haben? Was, wenn das das Ende von Solidaritä­t ist? Genau davor warnen Susemichel und Kastner eindringli­ch. Solidaritä­t sollte vielmehr die Fortsetzun­g von Identitäts­politik sein, für sie muss das Trennende vorübergeh­end überwunden werden, das ist ihre Vision. Es ist eine weit bessere als die, hinter die Errungensc­haften verschiede­nster Emanzipati­onsbewegun­gen zurückzuge­hen.

Jens Kastner, Lea Susemichel, „Identitäts­politiken. Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken“. € 12,80 / 152 Seiten. Unrast-Verlag, Berlin 2018

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria