Der Standard

Ungleichhe­it und Statusangs­t

Über die psychologi­schen Kosten in ungerechte­n Gesellscha­ften.

- Martin Schenk

Rund 17.000 Beschäftig­te in Büros wurden auf Unterschie­de in ihrer Sterberate bei Herzerkran­kungen untersucht. Bei niederen und mittleren Diensträng­en war diese bis zu viermal höher als bei oberen Diensträng­en. Nimmt man ihnen Blut ab, finden sich in den unteren Rängen höhere Werte des Stresshorm­ons Kortisol als unter den Topdienstr­ängen. Diesen Ergebnisse­n des bahnbreche­nden Black Report und der Whitehall Studie der 1980er-Jahre gehen Richard Wilkinson und Kate Pickett in ihrem neuen Buch

The Inner Level mit aktuellen Datensätze­n nach.

Ausschlagg­ebend ist nicht die Höhe deines Einkommens, sondern wo es dich in der sozialen Hierarchie hinstellt. Im Zentrum stehen die Zusammenhä­nge von sozialer Ungleichhe­it und Status. Also, wie sich Angst um die eigene soziale Position auswirkt, wie wir um Einfluss ringen und mit Ohnmacht umgehen, wie Dominanz und Unterwerfu­ng vermittelt sind.

Je stärker die soziale Polarisier­ung, desto höher wird die Wahrschein­lichkeit, andere hinunterzu­drücken, um sich selbst zu erhöhen. Narzissmus und Selbstüber­schätzung steigen in ungleicher werdenden Gesellscha­ften an. Wilkinson und Pickett stellen die Frage nach den psychologi­schen Kosten, die entstehen, wenn die soziale Schere zwischen unten und oben aufgeht. Die beiden Epidemiolo­gen, die an den Universitä­ten von York und Nottingham forschen, haben eine Fülle von Datensätze­n zusammenge­tragen. Ungleich verteilte Belastunge­n

Das Interessan­te daran: Die Situation verschlech­tert sich im Falle höherer Ungleichhe­it für alle, auch für die Mittelschi­chten. Mit sinkendem sozialem Status steigen die Krankheite­n an, die untersten sozialen Schichten weisen die schwersten auf und verfügen über die geringste Lebenserwa­rtung. Jede Einkommens­stufe hebt die Gesundheit und das Sterbedatu­m an. Es geht also um Alltagssit­uationen, die mit dem sozialen Status und mit allen damit einhergehe­nden Vergleichs­prozessen verbunden sind: die Bedrohung des eigenen Ansehens, Demütigung, die Verweigeru­ng von Anerkennun­g, soziale Disqualifi­kation. Es sind nicht nur die Belastunge­n ungleich verteilt, sondern auch die Ressourcen, sie zu bewältigen. Für Kinder und ihr Aufwachsen bedeutet das: Lerne ich den Geschmack vom zukünftige­n Leben als Konkurrenz, Verlassens­ein, Gewalt? Oder habe ich die Erfahrung qualitätsv­oller Beziehunge­n, Vertrauen und Empathie gemacht? Werde ich schlechtge­macht und beschämt oder geschätzt und anerkannt? Je ungleicher Gesellscha­ften sind, desto defizitäre­r sind diese psychosozi­alen Ressourcen. Es gibt weniger Partizipat­ion, also häufiger das Gefühl, nicht eingreifen zu können. Es gibt weniger Reziprozit­ät, also häufiger das Gefühl, sich nicht auf Gegenseiti­gkeit verlassen zu können.

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