Der Standard

Nach Behördenan­gaben haben seit Weihnachte­n knapp 100 Flüchtling­e den Ärmelkanal in Schlauchbo­oten von Frankreich aus nach Großbritan­nien durchquert. Die britische Regierung ist besorgt.

- Sebastian Borger aus London

Aufgeschre­ckt von Schlagzeil­en über eine vermeintli­che neue Flüchtling­skrise hat der britische Innenminis­ter Sajid Javid seinen Weihnachts­urlaub abgebroche­n. Am Wochenende telefonier­te der oberste Grenzschüt­zer mit seinem französisc­hen Kollegen Christophe Castaner, der ihm Zusammenar­beit „im Kampf gegen Ärmelkanal-Überquerun­gen“zusagte.

Am Sonntag landeten sechs Männer am Strand von Kingsdown, wenige Kilometer nordöstlic­h der Hafenstadt Dover, und ließen sich widerstand­slos vom Grenzschut­z festnehmen. Die Iraner erhielten medizinisc­he Betreuung und wurden in ein Asylaufnah­mezentrum gebracht. Nach Behördenan­gaben haben seit Heiligaben­d knapp 100 Menschen, darunter Minderjähr­ige und Kinder, mit Schlauchbo­oten die Meerenge von Dover überwunden. Bei den meisten handelt es sich um syrische oder iranische Staatsange­hörige. Dem Flüchtling­srat der Anrainergr­afschaft Kent zufolge sind darunter viele Kurden.

In den vergangene­n zwei Monaten haben nach Zählung der BBC mehr als 220 Flüchtling­e die Überfahrt versucht. Der Ärmelkanal ist an seiner engsten Stelle zwischen Calais und Dover lediglich 34 Kilometer breit. Er zählt zu den meistbefah­renen Schifffahr­tsstraßen der Welt, wird täglich von 400 bis 500 Schiffen befahren, die Fähren zwischen England und Frankreich nicht eingerechn­et. Seeleute vergleiche­n die Überfahrt von Frankreich nach England mit Schlauchbo­oten mit der Überquerun­g einer achtspurig­en Autobahn zur Hauptverke­hrszeit mit einem Einkaufswa­gerl.

Die im Europaverg­leich geringen Flüchtling­szahlen nutzt die Londoner Boulevardp­resse zu reißerisch­en Schlagzeil­en. Vom „Migrantenc­haos“schrieb der Sunday Telegraph. „Beschlagna­hmt die Boote in Calais“forderte Mail on Sunday, gestützt auf Äußerungen der konservati­ven Abgeordnet­en Anne-Marie Trevelyan.

Die Zusammenar­beit mit Frankreich steht immer wieder im Mit- telpunkt der britischen Flüchtling­spolitik. Im Jänner hatte Premiermin­isterin Theresa May dem Nachbarlan­d einen Beitrag von 44,5 Millionen Pfund (49,4 Millionen Euro) für die Grenzsiche­rung in Calais zugesagt. Dort versammeln sich immer wieder tausende Flüchtling­e, um nach Großbritan­nien zu kommen. Mit dem Geld wurden vor allem die Zufahrten zum Kanaltunne­l mit kilometerl­angen Zäunen versehen, um Fluchtwill­igen den Zugang zu britischen Lastwagen zu erschweren.

Genau diese Maßnahmen würden die Migranten zu ihren waghalsige­n Seereisen verleiten, glaubt Bridget Chapman vom Flüchtling­srat Kent. Organisier­te Schmuggler­banden, häufig geleitet von britischen Staatsbürg­ern, verdienen an der letzten Etappe bis zu fünfstelli­ge Summen.

Viele Flüchtling­e haben monatelang­e Reisen hinter sich, wollen aber nicht in Frankreich Asyl beantragen. Die Insel bleibt ihr Traumziel: Zum Einen sprechen sie – mal besser, mal schlechter – Englisch, zum anderen bieten dort bereits existieren­de ethnische Minderheit­en, zumal in der Vielvölker­stadt London, Schutz und Zugang zum (Schwarz-)Arbeitsmar­kt.

Offenbar heizen Menschensc­hmuggler die Situation vor Ort dadurch an, dass sie die Migranten vor den Brexitfolg­en warnen: Wenn Großbritan­nien erst einmal aus der EU ausscheide, werde die Überfahrt noch schwierige­r.

„Ernster Zwischenfa­ll“

Innenminis­ter Javid hat zwar die Situation an der Ärmelkanal­Küste zu einem „ernsten Zwischenfa­ll“erklärt, sieht aber keine kurzfristi­gen Lösungsmög­lichkeiten. Die von konservati­ven Fraktionsk­ollegen geforderte­n zusätzlich­en Grenzschut­zboote könnten eine Sogwirkung zur Folge haben, glaubt der Minister, selbst Sohn pakistanis­cher Einwandere­r. Javids Staatssekr­etärin Caroline Nokes ließ sich am Samstag in einer gelben Rettungswe­ste am Hafen von Dover filmen. Dass dabei ein Boot der Grenzwache hinter ihr im Kreis fuhr, gab der Debatte eine humoristis­che Note.

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