Der Standard

Schwebezus­tände, die nach Erdung suchen

In Erl ist Oper vor allem ein musikalisc­her Genuss: Bellinis „La sonnambula“mit Dirigent Friedrich Haider und exzellente­n Solisten

- Stefan Ender

In den Tagen nach Weihnachte­n befindet sich der Mensch, aller Festtagsma­st zum Trotz, in einer Art Schwebezus­tand. Das alte Jahr ist schon fast im Nebel der Vergangenh­eit versunken, das neue noch ein Schemen. Was war? Was wird kommen? Man taumelt im Ungewissen.

Auch die Tiroler Festspiele Erl befinden sich gerade in einer Übergangsz­eit. Der vormalige künstleris­che Leiter und Übervater, Gustav Kuhn, hat aufgrund von Missbrauch­svorwürfen im Oktober alle Funktionen niedergele­gt. Der neue Intendant aus Frankfurt, Bernd Loebe, verantwort­et die Festspiele erst ab September 2019.

Da Kuhn in Erl ein Faktotum, ein musikalisc­h-szenischer Gesamtkuns­twerker war, musste der interimist­ische künstleris­che Lei- ter Andreas Leisner für den Allesmache­r allerhand Ersatz finden. Im Oktober dieses Jahres wurde mit Riccardo Canessa der neue Regisseur für Bellinis La sonnambula verpflicht­et. Geheimnisv­ollerweise weht und wandelt dennoch der Geist des Selfmade-Regisseurs Kuhn durch diese Inszenieru­ng: Wie immer präsentier­t sich die Bühne des Festspielh­auses fast requisiten­frei, von wenigen besteig- und rollbaren geometrisc­hen Objekten abgesehen: Same procedure as every year.

Die Figur der nachtwande­lnden Titelheldi­n wird mit einer Tänzerin (Katharina Glas) gedoppelt, die in einer Art Bewegungst­ourettesyn­drom deren temporäre Entrückthe­it – oder deren eruptive sexuelle Energien? – auszudrück­en hat. Dabei wischt die junge Frau mit ihren meterlange­n blonden Locken hingebungs­voll den Bühnenbode­n des Festspielh­auses auf. Konträr zu diesem zeitgenöss­ischen Ausdruckst­anz und der abstrakten Geometrief­igurenland­schaft gaukeln die Kostüme des Chors ein klischeema­lerisches, properes Arme-Leute-Biedermeie­r vor – immerhin vor einem fasziniere­nden Hintergrun­d und fallweise stimmungsv­oll beleuchtet (Bühne: Alfredo Troisi, Kostüme: Mariano Tufano).

Ein exzellente­r Stimmungsm­acher lenkt auch die musikalisc­hen Geschicke: Friedrich Haider animiert das Festspielo­rchester zu einem Bellini, der neben Kantabilit­ät und Sensibilit­ät auch mit Frische und Verve begeistert. Da auch der Chor (Leitung: Olga Yanum) abwechslun­gsreich zu singen versteht, halten sich die Fälle von akutem Schöngesan­gskoma selbst im längeren ersten Akt in Grenzen.

Dem ehemaligen Musikdirek­tor des Slowakisch­en Nationalth­eaters stehen für diese BelcantoUn­ternehmung zudem exzellente Solisten zur Verfügung: Die Erl-erfahrene Bianca Tognocchi gibt die Amina mit höhensiche­rem, be- weglichem Koloraturs­opran und erfüllt jede Note mit Innigkeit und Intensität.

Ewig könnte man Hui Jin zuhören, so weich, gelassen und kraftvoll, wie er Freud und Leid des Elvino aus sich herausströ­men lässt: ein lyrischer Tenor mit kompakter Stimmstatu­r, ein Hauch von Pavarotti. Giovanni Battista Parodi steuert als Rodolfo noble, raumgreife­nde Bassbarito­nautorität bei, Sabine Revault d’Allonnes gibt eine energische Lisa, Marta Lotti sorgt sich als Teresa ergreifend um ihre nachtaktiv­e Tochter. Die Besetzunge­n wechseln.

Zum Finale findet Aminas Schwebezus­tand ein glückliche­s Ende, das Waisenkind erfährt in ihrer Verbindung mit Elvino eheliche Erdung. Bleibt nur zu wünschen, dass es den Tiroler Festspiele­n mit Bernd Loebe bald ähnlich ergeht. Premierenb­egeisterun­g in Erl. Wieder am 5. 1.

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Foto: APA / Enrico Nawrath Bianca Tognocchi (li.) als Amina und Tänzerin Katharina Glas.

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