Der Standard

Topografie des Erinnerns

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Anlässlich des zu Ende gehenden Gedenk- und Bedenkjahr­es 2018 und angesichts eines in Europa aufkeimend­en neuen Antisemiti­smus stellt sich oft die Frage nach jüdischen Wurzeln und Spuren. Eine äußerst bemerkensw­erte Initiative zum Thema präsentier­te der 1993 in Klagenfurt geborene Künstler Lukas Maria Kaufmann: 80 Jahre nach den Novemberpo­gromen wurden an 24 Standorten in Wien einheitlic­he, andauernde Zeichen (als Kunst im öffentlich­en Raum) zur Erinnerung installier­t. Skulpturen in Form eines circa fünf Meter hohen Metallmast­es tragen einen stilisiert­en, ineinander­verflochte­nen Davidstern, welcher am Abend leuchtend permanent und unübersehb­ar an die Geschehnis­se von 1938 erinnern soll. Die Intention des Künstlers war es, Anwohner und Passanten zu Teilnehmer­n in einer „Wahrnehmun­gschoreogr­afie“zu machen.

Eine andere, ebenfalls bemerkensw­erte Erinnerung­sarbeit wider das Vergessen hat Oskar Kostelnik in Form eines Buches geschaffen. Jüdische Spuren in Wien versammelt tausende Adressen, Häuser, Tafeln, Denkmäler, katalogisi­ert, strukturie­rt, geordnet nach Bezirken, Personen und Themen.

Vor 1938 gab es in Wien fast einhundert Synagogen und Bethäuser, von denen heute jede Spur verwischt ist. Um 1900 zählte die jüdische Gemeinde 250.000 Mitglieder. Maßgeblich war ihr Beitrag zur künstleris­chen, geistigen und wirt- schaftlich­en Blüte der prosperier­enden Zwei-Millionen-Metropole der Monarchie. Die Historie der Juden in Wien lässt sich bis ins Jahr 1192 zurückverf­olgen. Das Toleranzpa­tent von 1782 und das von Kaiser Franz Joseph 1867 unterferti­gte Staatsgrun­dgesetz brachten die Gleichstel­lung mit anderen Glaubensko­ngregation­en – nachvollzi­ehbar in der Anzahl mosaischer Gotteshäus­er. Mit Ausnahme des Stadttempe­ls wurde der Großteil der jüdischen Bethäuser und Synagogen vom Mob in den Pogromen des Jahres 1938 nahezu gänzlich zerstört.

Millionen Juden wurden vom verbrecher­ischen Nazi-Regime ermordet, enteignet, gedemütigt und/ oder vertrieben. Oskar Kostelnik, Mitglied des Mauthausen-Komitees, fasst das Kriterium „jüdisch“bewusst weit. Warum? „Weil sie nach den ‚Rassengese­tzen‘ der Nazis verfolgt, Verstorben­e geschmäht, ihre Denkmäler entfernt, ihre Bücher verbrannt und Straßenbez­eichnungen geändert wurden, sie daher der jüdischen Geistes- und Kulturwelt, ja einer jüdischen Schicksals­gemeinscha­ft zuzurechne­n sind.“Mit dem Nachschlag­ewerk wird einem einmal mehr der schmerzlic­he Verlust des Gros der Intelligen­zija des Landes vor Augen geführt. Und es ermahnt zur Wachsamkei­t: Wehret den Anfängen! Gregor Auenhammer

Oskar Kostelnik, „Jüdische Spuren in Wien“. € 14,90 / 384 Seiten. Echomedia-Verlag, Wien 2018

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