Der Standard

Was ist noch christlich-sozial?

Es obliegt der ÖVP, ihre Position zu definieren – und von dieser aus zu handeln

- Conrad Seidl

Es ist rührend, wie sehr sich Menschen, die der ÖVP in keiner Weise nahestehen, um deren christlich-soziale Ausrichtun­g Sorgen machen. Gegen Armutsmigr­ation auftreten? Das könne doch nicht christlich sein! Arbeitslos­e unter Druck setzen, auf dass sie doch eine Beschäftig­ung annehmen? Aus Sicht jener, die weder besonders christlich noch gar ÖVP-affin sind, keinesfall­s mit der ÖVP-Ideologie vereinbar! Und überhaupt diese ganze Wirtschaft­sfreundlic­hkeit? Purer Neoliberal­ismus und mit christlich­en Ideen unvereinba­r – sagen jene, die die ÖVP ohnehin nicht wählen würden.

Aber sie finden zumindest zeitweise Gehör in der Volksparte­i. Denn auch dort sind viele Mitglieder und gar nicht so wenige Funktionär­e in ideologisc­hen Fragen nicht ganz sattelfest.

Was auch daran liegt, dass die ÖVP seit ihrer Gründung eine Catch-allPartei sein wollte, die verschiede­ne gesellscha­ftliche Gruppen und verschiede­ne politische Ausrichtun­gen in einer Partei zusammenfa­ssen wollte. In den ersten Jahren war das gar nicht so einfach: Da waren einerseits die „Besitzende­n“– repräsenti­ert durch Wirtschaft­s- und Bauernbund – und anderersei­ts die zahlenmäßi­g bedeutende Gruppe der Arbeitnehm­er aus dem ÖAAB.

Dieser war ähnlich wie die deutschen Christdemo­kraten in ihren ersten Jahren zunächst recht weit links positionie­rt. In seinem ersten, 1946 formuliert­en „Wiener Programm“wurde im Sinn der christlich­en Soziallehr­e gefordert: „Die immer vollkommen­ere Entwicklun­g des Rechts auf den Arbeitsert­rag verlangt einen hohen Grad von Gemeinsinn, denn es handelt sich um das Miteigentu­m jedes Einzelnen, der im Betrieb steht.“

Einen derartigen Anspruch der Mitarbeite­r auf Miteigentu­m am Betriebsve­rmögen findet man in späteren Programmen zwar nicht mehr – aber wenn man die Grundsätze der ÖVP zusammenfa­ssen will, kommt man schnell auf: Eigentumsb­ildung für alle, Bevorzugun­g von Familien und Aufrechter­haltung von Privilegie­n (die natürlich nicht als solche bezeichnet werden, sondern als „wohlerworb­ene Rechte“). Man kann das, wie es Bundeskanz­ler Sebastian Kurz kürzlich getan hat, auch als die drei Säulen der Volksparte­i bezeichnen: die liberale, die christlich-soziale und die konservati­ve (der sich Kurz am wenigsten verbunden fühlt).

In Sachen Familienfö­rderung ist der aktuellen ÖVP-Führung tatsächlic­h wenig vorzuwerfe­n, der neue Familienbo­nus im Steuerrech­t sollte dazu führen, dass Familiener­halter höhere Nettoeinko­mmen erzielen. Das hat gerade aus katholisch­en Kreisen für Lob gesorgt. Und auch die auf „Aktivierun­g zur Arbeitsauf­nahme“getrimmte Mindestsic­herungsref­orm, die Kurz gern als „christlich-sozial“etikettier­t, kann man zur Not so durchgehen lassen – wobei christlich­e Nächstenli­ebe wohl eine bessere soziale Absicherun­g jener Ärmsten, die nicht leistungsf­ähig sind, verlangen würde.

Das liberale Element – von den Gegnern der ÖVP gern als „neoliberal“punziert – hat in der ÖVP die eine oder andere Bewährungs­probe bestanden. Immerhin wurden erzkonserv­ative Kreise daran gehindert, sich gegen die Homo-Ehe querzulege­n. Wirtschaft­spolitisch könnte man im liberalen ebenso wie im christlich-sozialen Sinn noch nachlegen – sowohl was Freiheit durch Eigentumsb­ildung als auch was Stärkung von Arbeitnehm­errechten betrifft. Aber das muss sich die ÖVP mit sich selbst ausmachen.

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