Der Standard

Kann ein mit Hightech ausgestatt­eter Skischuh das Pistenerle­bnis revolution­ieren? Ein Praxistest am Patscherko­fel.

- Steffen Arora

Konzentrie­re dich auf die Druckverte­ilung“, mahnt die Frauenstim­me über die kabellosen Ohrstöpsel. Gemeint ist der Kantendruc­k auf den Außenski. „Gut gemacht“, lobt sie nur wenige Schwünge später, weil diese ihrer Meinung nach besser gelungen sind. Doch als die Piste steiler wird, erkennt sie schon den nächsten Fehler: „Halte die Unterschen­kel parallel, sie sollen kein A formen!“

Die Stimme ist merklich keine menschlich­e, sondern die von Carv, dem ersten virtuellen Skilehrer. Dahinter steckt eine komplexe Anwendung künstliche­r Intelligen­z, die Skifahrern helfen soll, ihre Fahrtechni­k zu verbessern. Zwei junge Briten haben Carv 2015 als Kickstarte­rprojekt in London gegründet. Seit September vergangene­n Jahres unterhalte­n sie auch ein Büro in Innsbruck. Dort hatte die Gelegenhei­t, den Retortensk­ilehrer zusammen mit einem seiner Erfinder am Patscherko­fel zu testen.

„Wir wollen damit keinesfall­s menschlich­e Skilehrer ersetzen. Mit Carv kann man nicht Ski fahren erlernen, aber sich weiterentw­ickeln“, erklärt Jamie Grant, einer der beiden Firmengrün­der. Der 33-jährige Oxford-Absolvent hat Physik und Finanzstat­istik studiert. „Irgendwann wurde mir das zu langweilig. Statt Bilanzen wollte ich lieber Skidaten analysiere­n“, sagt er. Denn seine große Leidenscha­ft gilt dem Winterspor­t.

Die Idee zu Carv basierte letztlich auf Grants eigenen Bedürfniss­en als Skifahrer. Die Grundkennt­nisse waren bei ihm vorhanden, allerdings verbessert­e sich seine Technik danach nur noch langsam, weil er selten zum Skifahren kam. Der Wunsch, ein besserer Skifahrer zu werden, gepaart mit seiner Affinität für Technik standen so am Anfang des Carv-Projektes. Heute beschäftig­en Grant und sein Partner Pruthvikar Reddy insgesamt zehn Angestellt­en.

Das Herzstück von Carv ist die dünne blauumrand­ete Skischuhei­nlage, die mit insgesamt 48 Druck- sowie neun Bewegungss­ensoren ausgestatt­et ist. Die Einlage

Der intelligen­te Skischuh

PISTENTEST­ER: wird zwischen dem weichen Innenschuh und der harten Skischuhsc­hale mittels doppelseit­igen Klebestrei­fens angebracht.

Ein Kabel verbindet sie mit dem Akkupack, das hinten am Skischuh befestigt wird. Es versorgt die Sohle einerseits mit Energie und sendet darüber hinaus die gesammelte­n Daten via Bluetooth an das Handy des Carv-Nutzers. Noch funktionie­rt die Anwendung nur auf IOS-Geräten, bald soll die Androidver­sion folgen.

Die Sohle sammelt rund 100.000 Datenpunkt­e pro Schwung des Skifahrers und sendet diese Daten 25-mal pro Sekunde an das Handy. Dort werden sie in Echtzeit verarbeite­t und die daraus abgeleitet­en Ratschläge für die Fahrtechni­k gehen über die Kopfhörer direkt an den Nutzer.

Für die ersten Testfahrte­n stellt Grant die Anwendung auf Feedbackmo­dus. Das heißt, Carv sammelt während der Abfahrt alle Daten und sobald der Skifahrer in der Gondel sitzt, erhält er die Analyse seiner Abfahrt. „Das System erkennt, dass man länger nicht fährt und sich wieder nach oben bewegt“, erklärt der Entwickler.

„Du hast soeben 4,5 Kilometer auf der Familienab­fahrt am Patscherko­fel zurückgele­gt. Gratuliere, dein Ski-IQ liegt bei 120“, startet die Dame im Ohr ihre ermunternd­e Analyse. Die Könnerstuf­e wird in Form des Ski-IQ ausgedrück­t. 120 ist ein solider Mittelwert. Gute Skilehrer liegen meist bei über 130, Anfänger bei 100. Offenbar haperte es an der Kurventech­nik. „Vermeide allzu plötzliche­n Druck auf den äußeren Fuß“, rät die Stimme. Sie gibt während der Liftfahrt noch ein paar Tipps, wie man die Schwünge fließender setzen soll.

Wer es ganz genau wissen will, kann das Handy aus der Tasche nehmen und sich alle Daten auf dem Display ansehen. Die Auswahl ist enorm und reicht von der Anzahl der Schwünge über die Außentempe­ratur bis hin zur Höchstgesc­hwindigkei­t.

All diese Daten werden, sobald das Handy Internetzu­gang hat, auf dem Server der Firma Carv gespeicher­t. Dort stehen sie einerseits dem User jederzeit zur Verfügung, anderersei­ts nutzen die Entwickler sie, um die Anwendung stetig zu verbessern.

Derzeit sind mehr als 5000 Carv-Units weltweit im Umlauf. Der Preis der Anwendung inklusive Hardware, also Sohle und Akkupack, beträgt 229 britische Pfund. „Wir wollten so günstig wie möglich bleiben, um den Preis nicht zum Kaufkriter­ium zu machen“, erklärt Grant. Mittlerwei­le laufen bereits Verhandlun­gen mit namhaften Skischuhhe­rstellern, die Interesse an der Anwendung bekundet haben.

Wenig Fortgeschr­ittene können zwischen Feedbackfu­nktion und sofortiger Kritik der Performanc­e auf dem Ski, wie eingangs beschriebe­n, wählen. Für versierter­e Skifahrer stehen in der neuen Version, die dieses Wochenende auf den Markt kommt, eine ganze Fülle von zusätzlich­en Messdaten, wie etwa Neigungswi­nkel der Ski oder Kurvenradi­us zur Verfügung.

Auch zahlreiche Skilehrer und selbst einige Profisport­ler, wie der britische Slalomfahr­er Dave Ryding, würden Carv nutzen, um ihre Technik zu verbessern, sagt Grant. Mit ihnen kooperiert das Unternehme­n, um die eigenen Algorithme­n weiterzuen­twickeln. Unter den Carv-Testfahrer­n ist auch der mehrfache Slalom Weltcupsie­ger Michael Tritscher aus Schladming.

Neben der Technik liegt der Fokus auf der Bedienerfr­eundlichke­it. Um nicht ständig die Handschuhe an- und ausziehen zu müssen, funktionie­rt Carv, sobald einmal gestartet, automatisc­h und intuitiv. Dazu arbeitet das Team um Grant mit namhaften Computersp­ieleentwic­klern zusammen. „Die Didaktik ist neben der Technik sicher die größte Herausford­erung.“

Nach vier Abfahrten, bei denen 1567 Schwünge durch den Schnee gezogen wurden, ist tatsächlic­h ein Lerneffekt bemerkbar. „Dein Ski-IQ hat sich auf 127 verbessert“, lobt die Stimme im Ohr. Balance, Kanteneins­atz und Kurvenradi­us seien in Ordnung, während beim Druck auf den Außenski noch Luft nach oben wäre.

Echte Skilehrer müssen dennoch nicht fürchten, durch Carv ersetzt zu werden. Zwar wurde die App darauf programmie­rt, mitunter markige Sprüche wie „Go get it, tiger!“zu reißen, doch spätestens am Einkehrsch­wung scheitert der Skilehrer 2.0.

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R Karne Armin : ration Illust
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Die intelligen­te Schuheinla­ge sammelt abertausen­de Messdaten und schickt diese in Echtzeit via Bluetooth an das Handy des Users.
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