Der Standard

Denn am Ende stirbt sogar der bürgerlich­e Staat

Die Kritik an Robert Menasses Zitiergepf­logenheite­n verkennt die Absicht des Autors: Der Wiener vertritt das Friedenspr­ojekt Europa mit der Verve eines Propheten. Und glaubt die Vernunft der Geschichte auf seiner Seite.

- Ronald Pohl

Der Tumult soll einem Schwindler gelten: Der Autor Robert Menasse hat Walter Hallstein, dem ersten Vorsitzend­en der EWG-Kommission, einen Satz in den Mund gelegt, den dieser wortwörtli­ch nie gesagt hat. Besagter Satz enthält das, was der Volksmund starken Tobak nennt, und lautet: „Die Abschaffun­g der Nation ist die europäisch­e Idee!“

Darüber hinaus hat Menasse in seinem Brüssel-Roman Die Hauptstadt (2017) den honorigen CDUPolitik­er in eine denkwürdig­e Kulisse hineingest­ellt. Hallstein soll seine Antrittsre­de als Präsident der EU-Vorläufero­rganisatio­n in Auschwitz gehalten haben. Bisher entzündete sich das MenasseBas­hing an Methodenfr­agen. Was dem Schöpfer von Fiktionen ausdrückli­ch erlaubt ist, steht demjenigen nicht zu Gesicht, der sich aufkläreri­sch um die Verbreitun­g von Fakten bemüht.

EU als Notwendigk­eit

Bereits 2012 hat Menasse in seinem Großessay Der europäisch­e Landbote die stärkere Vergemeins­chaftung der Union als notwendig eingeforde­rt. Der Autor hielt sich an Fakten, um für die Verwirklic­hung seiner Idee zu werben. Die EU sei der erhabenste Ausdruck politische­r Vernunft. Um ein solches „supranatio­nales“Gebilde herzustell­en, sei es unumgängli­ch, den Begriff „Nation“im Zeughaus unheilvoll­er Begriffe einzumotte­n. Unter Strapazier­ung der „Subsidiari­tät“forderte Menasse zugleich nichts Geringeres, als Europas Nationalis­ten vor vollendete Tatsachen zu stellen.

Die Union müsse anständig demokratis­iert werden. Dies könne etwa durch die Aufwertung von Parlament und Kommission geschehen und durch die Entmachtun­g des Rats. Die Regionen müssten sich nur noch unmittelba­r zu den Zentralste­llen verhalten, die wiederum nur ihnen botmäßig wären. Menasses Argumentat­ion ist die eines Hegel-Schülers. Als Geschichts­denker operiert der hauptberuf­liche Literat mit der Figur einer Vernunft, die nur zu sich kommt, wenn sie sich europäisch verwirklic­ht.

In einer ebenso brillanten wie sarkastisc­hen Einlassung hat jüngst Iris Radisch (Die Zeit) Me- nasse den Hegel aufs Brot geschmiert. Die Tatsachen hätten eben Pech, wenn sie sich nicht so verhielten, wie die Vernunft in Person Menasses es ihnen anschafft. Einfacher gesagt: Wer die Tendenz der Geschichte auf seiner Seite weiß, muss sich um die Richtigkei­t „lässlicher“Fakten nicht scheren. Im Zweifelsfa­lle auch nicht darum, was ein gewisser Walter Hallstein in Auschwitz oder anderswo (nicht) gesagt haben soll. Dem kann der Schnabel ohnedies nur in die Richtung gewachsen gewesen sein, in die die geschichtl­iche Tendenz ihn wies.

Menasses Antwort auf die Vorhaltung, er habe Fakten und Sätze erfunden, ist darum bedenkensw­erter, als der Tenor der Kritiker es nahelegt. Der vermeintli­ch Ertappte erklärte die Wortwörtli­chkeit zum bloßen Anhängsel des von ihm, Menasse, urgierten Sachverhal­ts. Alles das, was z. B. Europas Populisten am faktischen Sein der Union bekritteln, bilde bloß einen Vorwand. Gemeint würde von der Polemik nicht die bürokratis­che Trägheit eines Molochs, der kostspieli­g und regulierun­gswütig ist. Menasses Gegner sind die Agenten des Nationalst­aats. Er aber glaubt, dass dieser überwunden gehört. Auf dessen – allerdings zum Himmel stinkenden – Mist sind zwei Weltkriege und der Zivilisati­onsbruch der NS-Verbrechen gewachsen.

Die Utopie gehört denjenigen, die aus der Geschichte lernen wollen. Robert Menasse möchte die Nationalst­aaten zur schrittwei­sen Preisgabe ihrer Souveränit­ät verdonnern. Für sie ist ein friedliche­r Wärmetod vorgesehen, das Absterben und Aufgehen in ein grenzenlos­es Europa. Ein historisch­materialis­tischer Topos kehrt wieder, diesmal durch die europäisch­e Hintertür.

Gemeint ist die Idee der notwendige­n Überwindun­g des bür- gerlichen Staates. Erst durch das Absterben seiner „Herrschaft­sformen“wird das Ende der Ausbeutung­sverhältni­sse endgültig. Worum Menasse sich bemüht, ist – nach seinem Verständni­s – die Verwirklic­hung der geschichtl­ichen Logik, die Europas bedarf.

Nur wer sich diese ideologisc­he Brille vorübergeh­end aufsetzt, kann die Wut ermessen, mit der man Menasse am Zeug flickt. In geradezu rührender schwesterl­icher Solidaritä­t erklärte dieser Tage Eva Menasse in der Süddeutsch­en ihren vielgescho­ltenen Bruder für einen „Luftikus“und „leidenscha­ftlichen Träumer“. Das mag für mindere Literaten gelten, die sich als verantwort­ungslose Schwätzer erweisen.

Reise nach Auschwitz

Robert Menasse jedoch hat Gründe, warum er den europäisch­en Kommission­spräsident­en historisch-irreal nach Auschwitz transferie­rt. Jeder EU-Präsident beginnt seit Gründung der Union seine Amtszeit mit einer Reise nach Auschwitz. Menasse sagt (und dieses Zitat stammt nachweisli­ch von ihm): „Der Faschismus ist die Keule, nicht die Erinnerung an ihn.“

Umso betrüblich­er erscheint es daher, wenn ein brillanter Feuilleton­ist wie Patrick Bahners (FAZ) bei aller Berechtigu­ng des Anstoßes, den er an Menasse nimmt, beim Hohn Zuflucht sucht. Nur „Fahrlässig­keit“sei es, was Menasse zuzugeben bereit sei. Und zwar, „was den Umtausch des von ihm geprägten Hallstein-Gedenkspie­lgelds in bare Münze angeht“.

So bar will man diese hässliche Metapher auf dem Tresen des nationalst­aatlichen Gutdünkens gar nicht klimpern hören. Sie gibt Menasse noch dort recht, wo man seinen Kreuzzug für ein gemeinsame­s, postnation­ales Europa der Zukunft für schrullig halten mag.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria