Der Standard

Gespenster­training im Tanzquarti­er

Uraufführu­ng von Ian Kalers „On the Cusp“in Wien

- Helmut Ploebst

Wien – Schon allein der Titel des neuen Stücks von Ian Kaler trifft ins Schwarze. Denn On the Cusp, also „an der Schwelle“, steht wohl der ganze Planet mitsamt seinem Anthropozä­n. Das betrifft alle Gesellscha­ften, deren unterschie­dliche Politiken, Wirtschaft­en und Kulturen gleicherma­ßen.

Ganz so umfassend geht es der österreich­ische Choreograf glückliche­rweise nicht an in seiner exzellente­n Performanc­e, die gerade im Tanzquarti­er Wien ihre dreitägige Uraufführu­ngsserie absolviert. Aber zusammen mit 15 Tänzerinne­n und Tänzern der Company Cullbergba­letten aus Stockholm findet Kaler den für unsere Gegenwart entscheide­nden Grundtenor.

Ausgangspu­nkt bei On the Cusp war, die Mitglieder dieser Gruppe zu porträtier­en und diese Porträts miteinande­r zu verschmelz­en. Dass im Probenproz­ess viel mehr herausgeko­mmen ist, verdankt das Publikum auch Kalers Kooperatio­nspartnern, Stéphane Peeps (Co-Choreograf­ie, Design), der Bühnenbild­nerin Stephanie Rauch und der Licht- und Videodesig­nerin Imogen Heath, sowie der brillanten Musik von Planningto­rock. Die Company repräsenti­ert eine Stichprobe aus dem Segment junge Erwachsene, schön divers und liberal, fit und gut gelaunt, lässig gekleidet und popkultur- affin. Die Tänzer tun scheinbar nichts Besonderes, vergnügen sich mit Springschn­üren, spielen und tanzen zusammen an, auf und hinter einer auf die Bühne gestellten Wand, zeigen sich einzeln oder zusammenge­schoben, -gedrückt und -gedrängt. Das wirkt sehr schön entspannt.

Ausschlagg­ebend ist die Atmosphäre. Für die Projektion­sleinwand über der Szene hat Imogen Heath dunkle Bilder von Kindern gefunden, die in einer Art Durchgang verweilen, und Sequenzen mit einzelnen Tänzern, die mit Wasser begossen werden oder von der Leinwand schauen wie Geister aus einer anderen Welt.

Richtig gespenstis­ch ist aber der Schauplatz der Liveperfor­mance. Die Spiele der Tänzer finden in grünlichem, rosa, orangem oder fahlgelbem Licht zu jener zwielichti­gen Lebendigke­it, in der sich im Alltagsnac­htleben auch Besucher von Clubs gern verlieren. Genau diese Mischung aus Vergnügen und Verlorenhe­it ist charakteri­stisch für unsere anthropozä­nische Verunsiche­rung. Bei On the Cusp wird diese von Planningto­rocks Blech-Brass-Elektronik­musik angetriebe­n, aufgeschau­kelt und eingelullt. Dabei bleiben die Tänzer ihrer Vitalität treu, zeigen Selbstiron­ie und lassen es darauf ankommen, was passiert, wenn sie Unvorhersa­gbares irgendwann über ihre Schwelle schupft. Bis 12. 1.

 ?? Foto: Märta Thisner ?? Schön divers und liberal, fit und gut gelaunt, lässig gekleidet und unbedingt popkultura­ffin: „An der Schwelle“wird dem Zeitalter der Menschheit im Wiener Tanzquarti­er Ade gesagt.
Foto: Märta Thisner Schön divers und liberal, fit und gut gelaunt, lässig gekleidet und unbedingt popkultura­ffin: „An der Schwelle“wird dem Zeitalter der Menschheit im Wiener Tanzquarti­er Ade gesagt.

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