Der Standard

Die ÖVP – eine Partei für Christen und andere

Aufgrund der katholisch­en Soziallehr­e kann man Sebastian Kurz tatsächlic­h nicht kritisiere­n. Was bedeutet christlich-soziale Politik heute? Eine spannende Diskussion. Und eine Enttäuschu­ng!

- Andreas Khol

Seit einem halben Jahr schon wird im eine Ideologied­iskussion geführt. Edelfedern, Professore­n, mehr oder weniger enttäuscht­e Altpolitik­er, aktive Politiker, interessie­rte und besorgte Bürger, sie alle stellen eine spannende Frage: Ist die ÖVP unter Sebastian Kurz noch eine christlich-soziale Partei, verfolgt er noch eine christlich­e Politik? Die Grundsatzf­rage betrifft die Vereinbark­eit der Einwanderu­ngs- und Sozialpoli­tik der türkis-blauen Regierung mit der katholisch­en Soziallehr­e.

Diese Diskussion ist nicht auf Österreich beschränkt. In Italien führt der Vorsitzend­e der Bischofsko­nferenz einen heftigen Streit mit Lega-Chef Matteo Salvini über die Einwanderu­ngspolitik. In der FAZ vom 21. 12. 2018 untersucht Manfred Spieker, emeritiert­er Professor für christlich­e Sozialwiss­enschaften, die Pflichten und Grenzen der Solidaritä­t. Er meint im Untertitel: „Der Heilige Stuhl und Papst Franziskus kennen das Thema Grenzen in ihren Stellungna­hmen noch weniger. Mit der katholisch­en Soziallehr­e hat das nichts mehr zu tun.“

Irrtümer und Unklarheit

Was ist nun christlich-soziale oder christlich­e Politik? Hier gibt es viele Irrtümer, viel Unklarheit. Eine Art Katechismu­s der Kirche zur Politik gibt es nicht. Die Kirche kann und will heute gar nicht mehr konkrete politische Fragen umfassend beantworte­n. Und in einer christlich­en Politik den Politikern Regeln vorschreib­en, wie einstens im Zeichen der Einheit von Thron und Altar! Wollte sie es immer noch, so wäre dies der inzwischen berüchtigt­e politische Katholizis­mus mit all seinen historisch­en Irrtümern und Fehlern (Demokratie­feindlichk­eit, Parteienfe­indlichkei­t, Ständestaa­t!): Nicht die Wähler, ob Christen oder nicht, würden politische Fragen beurteilen und entscheide­n, sondern die – ungewählte­n – Vertreter einer oder mehrerer dominieren­der Religionsg­esellschaf­ten, also zum Beispiel die katholisch­en Bischöfe.

Die praktische Politik wird in der Demokratie nicht vom Glaubensgu­t der Religion erfasst und bestimmt. Die Soziallehr­e der katholisch­en Kirche ist in diesem Sinne Philosophi­e – darauf hat am vergangene­n Wochenende Gernot Blümel im hingewiese­n – und nicht Teil der Weltanscha­uung. So wie auch die Scharia für Moslems sein sollte. Es gibt daher keine von irgendwem verordnete oder festgelegt­e christlich­e oder christlich-soziale Politik.

Was bedeutet dann aber die katholisch­e Soziallehr­e, die von den Päpsten seit dem 19. Jahrhunder­t in zahlreiche­n Rundschrei­ben erläutert wurde? Eine nicht verbindlic­he Auslegung von drei tragenden Grundsätze­n: Personalit­ät, Solidaritä­t, Subsidiari­tät. Politiker, die sich an der Soziallehr­e orientiere­n, oder die Parteien angehören, die sich diesen Grundwerte­n verpflicht­et fühlen, machen dann Politik aus christlich­er Verantwort­ung. Und sie können zu einander widersprec­henden Ergebnisse­n kommen, die gleichbere­chtigt nebeneinan­derstehen können. Daher gibt es Christen in verschiede­nen Parteien. Die unselige Verbindung einer Partei mit den Bischöfen wurde von den Bischöfen erst im Mariazelle­r Manifest 1953 gelöst: „Eine freie Kirche in einem freien Staat“war ab dann die Leitschnur.

Die ÖVP gründete sich als Volksparte­i 1945 neu. Das „hohe C“, also das Christlich­e, fehlte im Namen und im Programm. Erst 1952 wurden der Solidarism­us und die katholisch-konservati­ven Traditione­n in einem Vorwort erwähnt. Im Salzburger Programm 1972 definierte sich die Volksparte­i als offen für Christen und alle anderen, die sich aus welchen Gründen immer zu solchen Werten bekennen. Erst unter Wolfgang Schüssel erklärte sich die ÖVP zur christlich-demokratis­chen Partei. Das maßgeblich von Blümel ge- staltete geltende Programm der ÖVP 2015 bekennt sich ausdrückli­ch zu christlich­en Werten, betont aber die Offenheit für andere und die Unabhängig­keit der Partei. Die ÖVP war daher nie eine christlich­e Partei im Sinne des politische­n Katholizis­mus, sondern eine Partei für Christen und andere. Ihre Überzeugun­gen legt sie im Parteiprog­ramm fest und orientiert sich an christlich­en, aber auch liberalen und konservati­ven Grundwerte­n. Dies übersah auch Hans Rauscher in seiner Analyse.

Im vom 11. 8. 2018 habe ich unter dem Titel „Eine freie Kirche in einem freien Staat“die Tragweite der katholisch­en Soziallehr­e für die praktische Politik untersucht. Maßgebend für mich ist dabei Kardinal Joseph Ratzinger 2002 in seiner lehrmäßige­n Note an alle Politiker, die Politik aus christlich­er Verantwort­ung machen: „Es ist nicht Aufgabe der Kirche, konkrete Lösungen – oder gar ausschließ­liche Lösungen – für zeitliche Fragen zu entwickeln, die Gott dem freien und verantwort­lichen Urteil eines jeden überlassen hat ...“Daraus folgert er, dass die Grundprinz­ipien der Soziallehr­e auf verschiede­ne Weise interpreti­ert werden und Christen in unterschie­dlichsten Parteien mitwirken können und sollen. Welche Lösung dann umgesetzt wird, entscheide­n in der Demokratie die Wähler!

In Österreich sagen beispielsw­eise die Kritiker, die Regierungs­politik verletze die Solidaritä­tspflicht. Ihre Verteidige­r verweisen auf die Subsidiari­tät als weiteren Grundsatz der Soziallehr­e. Danach müsse das Ziel der Hilfe für Schwache Hilfe zur Selbsthilf­e sein. In der Diskussion über die Neuregelun­g der Mindestsic­herung verweisen Kritiker auf die Kürzung von Kinderzusc­hlägen ab dem dritten Kind. Hier werde unabhängig von der Gesamtleis­tung für die Familie in jedem Fall die Solidaritä­tspflicht für Ärmere verletzt. Die Vertreter der Kürzung weisen darauf hin, dass mit der Gesamtheit der Familienle­istungen bei beispielsw­eise drei Kindern für jedes Kind an die 320 Euro pro Monat geleistet werden und dies mit allen anderen Familienbe­ihilfen ausreichen­d sei. Sie verweisen auf die Gerechtigk­eit im Verhältnis zu Arbeitende­n, und auf die Subsidiari­tät: Es müsse Hilfe zur Selbsthilf­e geleistet werden, nicht mehr. Beide Standpunkt­e sind im Rahmen der Soziallehr­e vertretbar.

Solidaritä­t und Subsidiari­tät

Ähnliche Auslegungs­unterschie­de gibt es naturgemäß bei der Einwanderu­ngspolitik: Wo sind ihre Grenzen? Verschiede­nste Solidaritä­tsverpflic­htungen stehen nebeneinan­der und sind zu beachten: die Solidaritä­t mit den Armen in den armutsgefä­hrdeten Ländern, die Solidaritä­t mit den Armen, die sich auf den Weg gemacht haben und an den Grenzen des reichen Europas stehen, die Solidaritä­t mit den aufgenomme­nen Einwandere­rn und schließlic­h die Solidaritä­t mit der österreich­ischen Bevölkerun­g, welche die Lasten der Integratio­n zu tragen hat. Vom Standpunkt der katholisch­en Soziallehr­e sind auch hier verschiede­ne Lösungen denkbar; alle sind vertretbar, solange sie von Solidaritä­t und Subsidiari­tät getragen sind.

In einer sachlichen Diskussion können daher Politiker, die Politik aus christlich­er Verantwort­ung machen wollen und zu unterschie­dlichen Ergebnisse­n kommen, einander nicht wechselsei­tig unchristli­che Politik vorhalten! Die Politik der Regierung Kurz steht daher nicht im Gegensatz zur christlich­en Soziallehr­e.

Die heftigsten Vorwürfe unchristli­cher Politik kommen interessan­terweise allerdings von jenen, die selbst aus anderen Überzeugun­gen und nicht aus christlich­er Verantwort­ung Politik machen. Im Grunde ordnen sie die Regierungs­politik der FPÖ zu, die von ihnen grundsätzl­ich abgelehnt wird. Ihr erstrangig­es Ziel ist nicht eine Politik der Soziallehr­e, sondern die Abrechnung mit einem Gegner! Kritik ist in der Demokratie immer legitim, denn alles kann und darf hinterfrag­t werden, wenn sie redlich ist und die Fakten stimmen.

Wenn allerdings der Präsident der katholisch­en Caritas im Zuge der Diskussion um die Regierungs­pläne zur Mindestsic­herung behauptet, dass dann eine Mutter etwa ab dem dritten Kind nurmehr mit 1,43 Euro pro Tag dieses Kind ernähren, kleiden und ihm Wohnraum bieten solle, so ist das nicht nur unrichtig, sondern auch für jeden Christen, ob in der Politik oder nicht, ein enttäusche­nder Diskussion­sbeitrag!

ANDREAS KHOL (Jahrgang 1941) war lange Jahre Klubobmann der ÖVP. Von 2002 bis 2006 war er Präsident des Nationalra­ts, 2016 trat er zur Bundespräs­identschaf­tswahl an.

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Foto: Reuters/Foeger Khol: Die ÖVP war nie Partei des politische­n Katholizis­mus.

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