Frühe Diagnose der MS ist essenziell
„ Ziel ist, das Fortschreiten der Erkrankung so früh wie möglich aufzuhalten“, betont Univ.-Prof. Dr. Thomas Berger, MSc, Vorstand Univ.-Klinik für Neurologie an der Medizinischen Universität Wien.
Wie weit ist man in der Erforschung der Ursachen der MS?
Berger: Die Multiple Sklerose ist eine Autoimmunerkrankung. Dabei kommt es zu einer Überreaktion des körpereigenen Immunsystems. Bis vor einigen Jahren hielt man dies für schlecht. Heute weiß man, dass Autoimmunität, etwas, das wir alle in uns tragen, ein physiologisches System ist, das beispielsweise vorbeugend auf den Alterungsprozess wirkt oder kaputte Zellen vernichtet. Bei Patienten mit einer Autoimmunerkrankung kommt es zu einer überschießenden Reaktion des Immunsystems, wobei sich der autoimmune Anteil gegen den eigenen Körper richtet – also ein „ Zuviel des Guten“. Mir ist wichtig, dies klarzustellen, da für viele Betroffene MS oftmals mit einer Immunschwäche gleichbedeutend ist – MS-Patienten sind definitiv nicht immungeschwächt. In der täglichen Praxis untersuchen und diagnostizieren wir Patienten erst, wenn sie mit Beschwerden zu uns kommen. Die Entzündungsveränderungen, die dabei im MRT sichtbar werden, können dann aber schon über Monate oder Jahre bestehen. Wir können nicht darauf warten, die Patienten erst dann zu behandeln, wenn eine Ursache gefunden wurde – wir müssen sie, sobald die Diagnose feststeht, behandeln, mit dem Ziel, das Voranschreiten der Multiplen Sklerose aufzuhalten. Wenn uns das gelingt, tritt die Frage nach der Ursache schnell in den Hintergrund.
Was versteht man unter einer primär progredienten MS?
Berger: Damit wird jene Form bezeichnet, die nicht durch Schübe gekennzeichnet ist, die Beschwerden also nicht wieder abklingen. Untermauert wird die Diagnose mittels MRT, Liquordiagnostik, aber vor allem durch den Ausschluss von Schüben. Es gibt aber auch andere Faktoren, die auf diese Verlaufsform schließen lassen: Die Patienten sind meist älter als bei der schubförmig verlaufenden MS, durchschnittlich 40 Jahre alt, die Geschlechterverteilung ist ausgeglichen. Die klassischen Entzündungsveränderungen, die im MRT bei MS sichtbar sind, sind bei der primär progredienten Form geringer ausgeprägt. Durch rezente Studienergebnisse bedingt, ist die Diskussion neu entflammt, ob PPMS als eigene Entität im MS-Spektrum oder als Folge einer unbemerkten schubförmigen MS betrachtet werden soll. In diesen Studien wurde auch deutlich, dass eine kleine Gruppe der PPMS-Patienten sehr wohl Entzündungsveränderungen aufweist, die auch bei einer schubförmigen MS zu beobachten sind. Dies wurde bisher vernachlässigt, da diese Patienten nach der Diagnose nicht weiter mittels MRT beobachtet wurden, das war dem Fehlen einer Therapie geschuldet. Diese laufende Diskussion zeigt aber, dass wir im Bereich der MS noch nicht am Ende unserer Erkenntnisse angelangt sind.
Wo liegen die Unterschiede und Herausforderungen in der Behandlung von Menschen mit PPMS?
Berger: Die Behandlung der primär progredienten MS erfolgte bisher vor allem symptomatisch, da bis vor kurzem noch keine kausale Therapie verfügbar war. Das ist natürlich frustrierend, wenn man eine Verlaufsform hatte, für die es noch keine modulierende Therapie gab. Andererseits konnte vielen PPMS-PatientInnen mit dem richtigen Paket an symptomatischer Therapie gut geholfen werden, denn diese sollen primär nicht vorbeugen, sondern eine Verbesserung der Symptome bewirken. Als behandelnde Ärzte wollen wir das Fortschreiten der Erkrankung so gut wie möglich aufhalten – bei schubförmigen und progredienten Verlaufsformen, denn eine Heilung für Multiple Sklerose ist derzeit noch nicht in Sicht.
Braucht es noch Forschung und Innovation im Bereich der MS?
Berger: Die Erforschung der MS und neuer Therapien hat in den letzten zwanzig Jahren sehr stark zugenommen. Und mit jeder durchgeführten Studie haben wir unser Wissen um diese Krankheit erweitert. Vor rund zwanzig Jahren war noch keine Therapie für die Multiple Sklerose verfügbar, heute gibt es bereits sechzehn zugelassene Medikamente. Dazu gab es auch große Fortschritte in der Weiterentwicklung von Bildgebungsverfahren oder auf dem Gebiet der Biomarker. Die weitere Entwicklung wird dahin gehen, dass wir herausfinden wollen, welche Therapie für den individuellen Patienten tatsächlich die beste ist. Natürlich würde ich mir wünschen, wenn wir bereits heute sagen könnten: Abhängig von Faktoren wie Persönlichkeit, Einstellung, Krankheitsverlauf oder Begleiterkrankungen eines Patienten ist dieses oder jenes Medikament die bestmögliche Therapieoption, unterstützt von Biomarkern, um sicher zu sein, dass die gewählte Therapie bei diesem Patienten erfolgreich verläuft. Diese Entwicklung können wir für die nächste Zukunft erwarten und das wird einen großen Schritt nach vorne in der Behandlung von MSBetroffenen darstellen.
Sie engagieren sich auch in der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie (ÖGN) – welche Ziele verfolgt die ÖGN?
Berger: Die österreichische Gesellschaft für Neurologie ist eine wissenschaftliche Gesellschaft, die sich mit Forschung, Lehre und Weiterbildung befasst, die Förderung des Faches Neurologie wahrnimmt und standespolitische Interessen der Neurologinnen und Neurologen vertritt. Bereits seit 2006 besteht ein MS-Therapieregister, in dem alle verfügbaren Therapien dokumentiert sind; rund ein Drittel der österreichischen MS-Patienten sind in diesem Register enthalten. Eine meiner Aufgaben als MS-Koordinator der ÖGN ist es, die Qualität der Daten des MSRegisters sicherzustellen. Wir haben hier ein Alleinstellungsmerkmal, da wir als einziges Register weltweit neben einem Board und Datenbankingenieur auch mit einem Monitor zusammenarbeiten, der die Daten laufend auf ihre Qualität und Vollständigkeit überprüft und Plausibilitätsprüfungen durchführt – eine besondere Form der Qualitätssicherung für die Patienten, die behandelnden Ärzte und letztendlich auch die Zahler im Gesundheitssystem. Darüber hinaus veranstaltet die ÖGN zwei Mal pro Jahr MS-Zentrumstreffen, bei denen aktuelle Ent- wicklungen im Therapie- und Diagnostikbereich präsentiert werden. Jedes MS-Zentrum, in einem Krankenhaus oder in einer Ordination, kann um ÖGN-Zertifizierung als MSZentrum ansuchen – dies bedeutet, sie müssen bestimmten Qualitätskriterien entsprechen und sich kontinuierlich im Bereich der Multiplen Sklerose weiterbilden. Ihre Kompetenz und Expertise wird gesteigert, was sich wiederum positiv in Bezug auf Behandlungsgüte und Diagnosegenauigkeit für die Patientinnen und Patienten auswirkt.
Österreich ist also gut aufgestellt in puncto Behandlungsqualität und Expertise?
Berger: Absolut. Als MS-Koordinator werde ich oft von wissenschaftlichen Gesellschaften aus anderen Ländern kontaktiert, die uns um unser Netzwerk und unsere Versorgungsstruktur beneiden und versuchen, dieses System auch in ihrem Land umzusetzen – das österreichische MS-Netzwerk ist zum Exportartikel geworden! Wir müssen aber aufpassen – und das hängt mit ökonomischen Gründen zusammen – wenn neue Therapien auf den Markt kommen und diese in Österreich aufgrund der Kosten nicht verfügbar sind, dass wir nicht den Anschluss verlieren. Das könnte bedeuten, dass Patienten keinen Zugang zu weiteren neuen Behandlungen mehr hätten, aber auch dass Österreich als Standort für klinische Studien uninteressant werden und letztlich von der Beteiligung wissenschaftlicher Entwicklungen ausgeschlossen sein würde. Mir ist klar, dass man aus der Sicht einer Sozialversicherung auch auf die Kosten und übergeordnete gesundheitsökonomische Aspekte achten muss. Deshalb ist meiner Meinung nach eine noch stärkere Interaktion mit der Gesundheitspolitik notwendig, um profunde, sachorientierte gemeinsame Ziele zu definieren, damit Österreich auch weiterhin mit seiner Expertise punkten kann und nicht zuletzt auch als hervorragender Wissenschafts-, Wirtschafts- und Behandlungsstandort bestehen bleibt.
„Primär progredient bedeutet, dass die Krankheit von Beginn an mit neurologischen Symptomen voranschreitet“ „Hohe Kompetenz und Expertise der österreichischen MS-Spezialisten“