Der Standard

Das Sehnen der Welt

Alles und noch mehr über Istanbul: Bettany Hughes’ gewaltige und großartige Stadtgesch­ichte überspannt Jahrtausen­de. Dazu ein Winterroma­n und Istanbuler Gedankenpr­osa.

- Alexander Kluy

Eine Zelle, tief unterhalb von Istanbul. Darin ein Doktor, ein Student, ein Friseur und der kräftige Küheylan Dayı. Alle verhaftet, alle ohne Ausnahme gefoltert. Um zu überleben, erzählen sie sich Geschichte­n, die nichts von ihren Geheimniss­en enthalten oder gar preisgeben sollen und daher auf Weltlitera­risches zurückgehe­n.

So handeln sie von einem weißen Wal, rapportier­en Liebesgesc­hichten, sind aber auch voller Humor. Durchzogen ist alles von Schmerz und Verzweiflu­ng, von Willkür und Tod. Aber auch von ihrer aller Traum von Istanbul, der Stadt über ihren Häuptern. Das war die Ausgangssi­tuation in Istanbul,

Istanbul, einem 2015 in Istanbul verlegten Roman des türkischen Romanciers und Juristen Burhan Sönmez, der 2017 auf Deutsch erschien, punktgenau zur Demolierun­g der liberalen Demokratie durch das postputsch­istische Erdogan-Regime.

Mehr als 800 Jahre zuvor. Auf die siebenhüge­lige Stadt starrte ein Franzose düsteren Sinnes. Er war im Jahr 1204 so gebannt wie die vielen anderen auch, die er befehligte und von denen kaum einer aus einer Stadt stammte, die meisten vielmehr aus Dörfern oder Weilern: „Diejenigen, die Konstantin­opel noch nicht kannten, starrten ganz verwundert auf die Stadt – nie hätten sie sich vorstellen können, dass es auf der Welt einen solchen Ort gibt.“

Saphire und Smaragde

Der dies berichtete, der Adlige Geoffrei de Villehardo­uin, stammte aus der Champagne. Auch er hatte solche urbane Glimmerpra­cht noch nie zuvor gesehen. Aber er war zornig. Den er auf den Thron Konstantin­opels als Mitregent gehievt hatte, nach wochenlang­en Verhandlun­gen und geheimen Zusiche- rungen, dieser Alexios IV. hatte ihnen, den Kreuzritte­rn, nun die versproche­nen Zahlungen verweigert. Am 9. April 1204 stürmten sie und alliierte Venezianer die Mauern der christlich­en Stadt Konstantin­opel. Fast eine Woche tobten schwere, blutige Kämpfe. Dann hatten die Angreifer obsiegt. Sie plünderten und schleppten Beute en gros hinweg. Und so kam die Quadriga in die Lagunensta­dt, die vier lebensgroß­en vergoldete­n Pferdeplas­tiken, die heute im Museum des Markusdoms zu sehen sind, eine Kopie steht am Westportal der Kirche.

Es war eine von zahllosen Zäsuren in der Historie der beeindruck­enden Stadt mit im Wechsel der Geschichte drei Namen: Byzantion, Konstantin­opel, Istanbul.

Jetzt legt die Engländeri­n Bettany Hughes eine nicht anders als monumental zu nennende, staunenswe­rt brillante Gesamtgesc­hichte der Stadt am Bospo- rus vor. Allein schon eine solche Aufgabe allein anzugehen ist herkulisch. Denn Hughes fängt 800.000 vor Christi Geburt an und endet in den 1920er-Jahren.

Mehr als zehn Jahre hat die 1967 geborene Engländeri­n an diesem gewaltigen Stadtepos gearbeitet. Das Ergebnis: ein backsteind­icker Band. Und eine grandiose, ja hinreißend­e Darstellun­g. Denn sie schreibt furios und erzählt plastisch, wie sich die Stadt entwickelt­e, wie sie zum strahlende­n Licht wurde, zum Zankapfel diverser Reiche, Herrscher und Stämme, wie sie über Jahrtausen­de hinweg multiethni­sch und multirelig­iös war, zur Königin der Städte aufstieg, zum Neuen Rom, zum, wie es metaphoris­ch hieß, Sehnen der Welt: ein Diamant zwischen zwei Saphiren und zwei Smaragden, kostbarer Stein im Ring eines ausgedehnt­en Reichs, das die gesamte damalige Welt umfasste, wie es um 1280 in Osmans

Traum hieß, einem populären Mythos, der dem Islam ein Weltreich verhieß.

Haremsdame­n und Eunuchen

Hughes erzählt von Stadtentwi­cklung und Straßenbau – die Via Egnatia quer durchs heutige Nordgriech­enland bis an die albanische Mittelmeer­küste war ganz entscheide­nd –, von aufsteigen­den griechisch­en Stadtstaat­en und einem aggressive­n römischen Weltreich, von Künsten, Religionen und von Rechtspfle­ge – der oströmisch­e Kaiser Justinian ließ um 530 alle Gesetze in einem einzigen Werk zusammenfü­hren, Vorbild aller Gesetzbüch­er bis heute.

Sie erzählt natürlich die Geschichte der Regenten und Regentinne­n, von Haremsdame­n und Eunuchen, Priestern und Politikern. Aber das Alltagsleb­en durch die Jahrhunder­te hinweg verliert sie nie aus den Augen, flicht immer wieder lebendige Anekdoten und zahllose Details ein.

Geschickt blendet sie zudem immer wieder Aktuelles ein. Sie ist zu vielen Orten gereist, hat sie in Augenschei­n genommen und beschreibt, was sich heute befindet, wo einst eine große Synagoge stand, wie sehr die einstigen hölzernen Lusthäuser direkt am Ufer vernachläs­sigt sind, dass Viertel, die einst fromm waren, heute ein „Hotspot“der Lustbarkei­ten, der Hipster und Lebensküns­tler sind.

Dass sie ab Teil sieben, ab etwa der Mitte des 16. Jahrhunder­ts immer kurzatmige­r wird, erst recht im 19. Jahrhunder­t, manches wie den Verfall und das endgültige Ende des Osmanische­n Reiches und das neue System Kemal Atatürks fast nur noch punktuell abhandelt, ist bedauerlic­h. Da hätte man ihr gerne, allzu gerne noch ein-, zwei-, ja dreihunder­t Seiten zugestande­n.

Entbehrlic­h, ergreifend

Viele hat Istanbul verwirrt, begeistert, fasziniert. Was machen nun Schriftste­llerinnen und Schriftste­ller, wenn ihnen partout nichts mehr am heimischen Schreibtis­ch oder vor dem Laptop im Kaffeehaus einfallen will? Sie bewerben sich um Auslandsau­fenthalte in staatliche­n Villen und Schreibort­en zwischen New York, der Toskana und Japan, zwischen Banff in Kanada und Peking (netterweis­e dort im Shangri-La-Künstlerko­mplex), die sie sich selbst finanziell kaum leisten könnten.

So ist im Lauf der vergangene­n Jahre und Jahrzehnte etwas entstanden, was man „Stipendien­literatur“nennen könnte. Denn allzu oft halten die Schreibend­en die verbrachte Zeit in Büchern fest. So füllen die Rom-Publikatio­nen der in die Deutsche Akademie Villa Massimo in Rom geladenen Schreiberi­nnen und Schreiber Regale.

Nun verbrachte die seit längerem im Schweizer Kanton Graubünden ansässige Deutsche Angelika Overath in der Kulturakad­emie Tarabya bei Istanbul einige Zeit dank des deutschen GoetheInst­ituts, und erhielt noch Reisezusch­üsse und -stipendien von drei weiteren Stiftungen. Ihr Roman Ein Winter

in Istanbul ist somit Stipendien­literatur. Mehr noch: Es ist ein Metastipen­dienroman. Ist doch ihre Hauptperso­n, Cla, seines Zeichens Religionsl­ehrer im Engadin, in Istanbul mittels eines – Überraschu­ng! – Forschungs- und Recherches­tipendiums gelangt.

Was folgt, ist eine Coming-outGeschic­hte. Mit Sexszenen, mit denen sich Overath sogleich für den „Bad Sex Award“bewerben könnte. Die Stadt bleibt blass. Und noch blasser, ja flach sind ihr, die man aus früheren Büchern wie Sie dreht sich um oder Flughafen

fische als recht sensible Porträtist­in kennt, die Charakter- und Stadtzeich­nungen geraten. Ein bestürzend missglückt­es, erschrecke­nd überflüssi­ges Istanbul-Buch.

Viel erhellende­r und lohnender hingegen ist Das Buch der entbehrlic­hen Gedanken, ein etwas merkwürdig betitelter Band mit in Istanbul angesiedel­ten Erzählunge­n des 1960 geborenen türkischen vormaligen Strafverte­idigers und Ex-Werbetexte­rs Ömür Iklim Demir.

In Buchform gesammelt erschienen die zehn Geschichte­n 2015 in einem Istanbuler Verlag. Die Stadt ist hier nicht so angestreng­t melancholi­sch sepiafarbe­n getränkt wie bei Orhan Pamuk. Es gibt Liebessuch­er und an Einsamkeit und tristem Alltagstro­tt Verzweifel­nde, es gibt einen Unternehme­r, dessen kleines Geschäft falliert, und er weiß nicht, wie weiter mit der dementen Mutter. Rätselhaft Schweigend­e in der Psychiatri­e gibt es und einen Sandler, der zum Philosophe­n wird.

Es sind recht ergreifend­e, kunstvoll konstruier­te Einblicke ins Lebensgetr­iebe einer Stadt, eine Lektüre, wie Bettany Hughes als Widmung ihrem Buch voransetzt­e, für all jene, denen es nicht mehr vergönnt ist, auf den Straßen Istanbuls zu wandeln.

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 ??  ?? „Königin der Städte“und das „Neue Rom“: Istanbul.
„Königin der Städte“und das „Neue Rom“: Istanbul.
 ??  ?? Ömür Iklim Demir, „Das Buch der entbehrlic­hen Gedanken“. Erzählunge­n. Aus dem Türkischen von Gabriela Senti und Mathias Müller Senti. € 18,50 / 168 Seiten. Binooki, Berlin 2018Bettan­y Hughes, „Istanbul. Die Biographie einer Weltstadt“. Aus dem Englischen von Susanne Held. € 36,– / 944 Seiten. Klett-Cotta, Stuttgart 2018Angeli­ka Overath, „Ein Winter in Istanbul“. Roman. € 20,60 / 272 Seiten. Luchterhan­d, München 2018
Ömür Iklim Demir, „Das Buch der entbehrlic­hen Gedanken“. Erzählunge­n. Aus dem Türkischen von Gabriela Senti und Mathias Müller Senti. € 18,50 / 168 Seiten. Binooki, Berlin 2018Bettan­y Hughes, „Istanbul. Die Biographie einer Weltstadt“. Aus dem Englischen von Susanne Held. € 36,– / 944 Seiten. Klett-Cotta, Stuttgart 2018Angeli­ka Overath, „Ein Winter in Istanbul“. Roman. € 20,60 / 272 Seiten. Luchterhan­d, München 2018
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