Das Sehnen der Welt
Alles und noch mehr über Istanbul: Bettany Hughes’ gewaltige und großartige Stadtgeschichte überspannt Jahrtausende. Dazu ein Winterroman und Istanbuler Gedankenprosa.
Eine Zelle, tief unterhalb von Istanbul. Darin ein Doktor, ein Student, ein Friseur und der kräftige Küheylan Dayı. Alle verhaftet, alle ohne Ausnahme gefoltert. Um zu überleben, erzählen sie sich Geschichten, die nichts von ihren Geheimnissen enthalten oder gar preisgeben sollen und daher auf Weltliterarisches zurückgehen.
So handeln sie von einem weißen Wal, rapportieren Liebesgeschichten, sind aber auch voller Humor. Durchzogen ist alles von Schmerz und Verzweiflung, von Willkür und Tod. Aber auch von ihrer aller Traum von Istanbul, der Stadt über ihren Häuptern. Das war die Ausgangssituation in Istanbul,
Istanbul, einem 2015 in Istanbul verlegten Roman des türkischen Romanciers und Juristen Burhan Sönmez, der 2017 auf Deutsch erschien, punktgenau zur Demolierung der liberalen Demokratie durch das postputschistische Erdogan-Regime.
Mehr als 800 Jahre zuvor. Auf die siebenhügelige Stadt starrte ein Franzose düsteren Sinnes. Er war im Jahr 1204 so gebannt wie die vielen anderen auch, die er befehligte und von denen kaum einer aus einer Stadt stammte, die meisten vielmehr aus Dörfern oder Weilern: „Diejenigen, die Konstantinopel noch nicht kannten, starrten ganz verwundert auf die Stadt – nie hätten sie sich vorstellen können, dass es auf der Welt einen solchen Ort gibt.“
Saphire und Smaragde
Der dies berichtete, der Adlige Geoffrei de Villehardouin, stammte aus der Champagne. Auch er hatte solche urbane Glimmerpracht noch nie zuvor gesehen. Aber er war zornig. Den er auf den Thron Konstantinopels als Mitregent gehievt hatte, nach wochenlangen Verhandlungen und geheimen Zusiche- rungen, dieser Alexios IV. hatte ihnen, den Kreuzrittern, nun die versprochenen Zahlungen verweigert. Am 9. April 1204 stürmten sie und alliierte Venezianer die Mauern der christlichen Stadt Konstantinopel. Fast eine Woche tobten schwere, blutige Kämpfe. Dann hatten die Angreifer obsiegt. Sie plünderten und schleppten Beute en gros hinweg. Und so kam die Quadriga in die Lagunenstadt, die vier lebensgroßen vergoldeten Pferdeplastiken, die heute im Museum des Markusdoms zu sehen sind, eine Kopie steht am Westportal der Kirche.
Es war eine von zahllosen Zäsuren in der Historie der beeindruckenden Stadt mit im Wechsel der Geschichte drei Namen: Byzantion, Konstantinopel, Istanbul.
Jetzt legt die Engländerin Bettany Hughes eine nicht anders als monumental zu nennende, staunenswert brillante Gesamtgeschichte der Stadt am Bospo- rus vor. Allein schon eine solche Aufgabe allein anzugehen ist herkulisch. Denn Hughes fängt 800.000 vor Christi Geburt an und endet in den 1920er-Jahren.
Mehr als zehn Jahre hat die 1967 geborene Engländerin an diesem gewaltigen Stadtepos gearbeitet. Das Ergebnis: ein backsteindicker Band. Und eine grandiose, ja hinreißende Darstellung. Denn sie schreibt furios und erzählt plastisch, wie sich die Stadt entwickelte, wie sie zum strahlenden Licht wurde, zum Zankapfel diverser Reiche, Herrscher und Stämme, wie sie über Jahrtausende hinweg multiethnisch und multireligiös war, zur Königin der Städte aufstieg, zum Neuen Rom, zum, wie es metaphorisch hieß, Sehnen der Welt: ein Diamant zwischen zwei Saphiren und zwei Smaragden, kostbarer Stein im Ring eines ausgedehnten Reichs, das die gesamte damalige Welt umfasste, wie es um 1280 in Osmans
Traum hieß, einem populären Mythos, der dem Islam ein Weltreich verhieß.
Haremsdamen und Eunuchen
Hughes erzählt von Stadtentwicklung und Straßenbau – die Via Egnatia quer durchs heutige Nordgriechenland bis an die albanische Mittelmeerküste war ganz entscheidend –, von aufsteigenden griechischen Stadtstaaten und einem aggressiven römischen Weltreich, von Künsten, Religionen und von Rechtspflege – der oströmische Kaiser Justinian ließ um 530 alle Gesetze in einem einzigen Werk zusammenführen, Vorbild aller Gesetzbücher bis heute.
Sie erzählt natürlich die Geschichte der Regenten und Regentinnen, von Haremsdamen und Eunuchen, Priestern und Politikern. Aber das Alltagsleben durch die Jahrhunderte hinweg verliert sie nie aus den Augen, flicht immer wieder lebendige Anekdoten und zahllose Details ein.
Geschickt blendet sie zudem immer wieder Aktuelles ein. Sie ist zu vielen Orten gereist, hat sie in Augenschein genommen und beschreibt, was sich heute befindet, wo einst eine große Synagoge stand, wie sehr die einstigen hölzernen Lusthäuser direkt am Ufer vernachlässigt sind, dass Viertel, die einst fromm waren, heute ein „Hotspot“der Lustbarkeiten, der Hipster und Lebenskünstler sind.
Dass sie ab Teil sieben, ab etwa der Mitte des 16. Jahrhunderts immer kurzatmiger wird, erst recht im 19. Jahrhundert, manches wie den Verfall und das endgültige Ende des Osmanischen Reiches und das neue System Kemal Atatürks fast nur noch punktuell abhandelt, ist bedauerlich. Da hätte man ihr gerne, allzu gerne noch ein-, zwei-, ja dreihundert Seiten zugestanden.
Entbehrlich, ergreifend
Viele hat Istanbul verwirrt, begeistert, fasziniert. Was machen nun Schriftstellerinnen und Schriftsteller, wenn ihnen partout nichts mehr am heimischen Schreibtisch oder vor dem Laptop im Kaffeehaus einfallen will? Sie bewerben sich um Auslandsaufenthalte in staatlichen Villen und Schreiborten zwischen New York, der Toskana und Japan, zwischen Banff in Kanada und Peking (netterweise dort im Shangri-La-Künstlerkomplex), die sie sich selbst finanziell kaum leisten könnten.
So ist im Lauf der vergangenen Jahre und Jahrzehnte etwas entstanden, was man „Stipendienliteratur“nennen könnte. Denn allzu oft halten die Schreibenden die verbrachte Zeit in Büchern fest. So füllen die Rom-Publikationen der in die Deutsche Akademie Villa Massimo in Rom geladenen Schreiberinnen und Schreiber Regale.
Nun verbrachte die seit längerem im Schweizer Kanton Graubünden ansässige Deutsche Angelika Overath in der Kulturakademie Tarabya bei Istanbul einige Zeit dank des deutschen GoetheInstituts, und erhielt noch Reisezuschüsse und -stipendien von drei weiteren Stiftungen. Ihr Roman Ein Winter
in Istanbul ist somit Stipendienliteratur. Mehr noch: Es ist ein Metastipendienroman. Ist doch ihre Hauptperson, Cla, seines Zeichens Religionslehrer im Engadin, in Istanbul mittels eines – Überraschung! – Forschungs- und Recherchestipendiums gelangt.
Was folgt, ist eine Coming-outGeschichte. Mit Sexszenen, mit denen sich Overath sogleich für den „Bad Sex Award“bewerben könnte. Die Stadt bleibt blass. Und noch blasser, ja flach sind ihr, die man aus früheren Büchern wie Sie dreht sich um oder Flughafen
fische als recht sensible Porträtistin kennt, die Charakter- und Stadtzeichnungen geraten. Ein bestürzend missglücktes, erschreckend überflüssiges Istanbul-Buch.
Viel erhellender und lohnender hingegen ist Das Buch der entbehrlichen Gedanken, ein etwas merkwürdig betitelter Band mit in Istanbul angesiedelten Erzählungen des 1960 geborenen türkischen vormaligen Strafverteidigers und Ex-Werbetexters Ömür Iklim Demir.
In Buchform gesammelt erschienen die zehn Geschichten 2015 in einem Istanbuler Verlag. Die Stadt ist hier nicht so angestrengt melancholisch sepiafarben getränkt wie bei Orhan Pamuk. Es gibt Liebessucher und an Einsamkeit und tristem Alltagstrott Verzweifelnde, es gibt einen Unternehmer, dessen kleines Geschäft falliert, und er weiß nicht, wie weiter mit der dementen Mutter. Rätselhaft Schweigende in der Psychiatrie gibt es und einen Sandler, der zum Philosophen wird.
Es sind recht ergreifende, kunstvoll konstruierte Einblicke ins Lebensgetriebe einer Stadt, eine Lektüre, wie Bettany Hughes als Widmung ihrem Buch voransetzte, für all jene, denen es nicht mehr vergönnt ist, auf den Straßen Istanbuls zu wandeln.