Kurz gegen Ludwig
Im Streit rund um die Aufstehgewohnheiten von Sozialhilfeempfängern schenken einander Wiens Bürgermeister und der Kanzler weiter ein – die Freiheitlichen wiederum feiern sich selbst schon als nächste Wahlsieger in der Bundeshauptstadt.
Im Streit um die gekürzte Mindestsicherung legten Wiens Bürgermeister Ludwig und Kanzler Kurz nach.
Nicht nur das Wahlvolk, auch die Politik debattierte am Wochenende munter weiter über die Aufstehzeiten im Allgemeinen und jene von Mindestsicherungsbeziehern in der Bundeshauptstadt im Besonderen. Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) stellte in Richtung der Koalitionsspitzen klar, dass er eine Diskreditierung von Wiens Bevölkerung nicht zulasse – die sei nämlich fleißig und brauche sich das nicht gefallen zu lassen.
Bei der Regierungsklausur waren sowohl Kanzler Sebastian Kurz als auch sein Vize Heinz-Christian Strache gegen Ende der Woche angesichts der Weigerung des rotgrünen Wien, die Reform der Mindestsicherung umzusetzen, über die dortigen Zustände hergezogen. In Anspielung auf die Empfänger der Sozialhilfe sagte der ÖVP-Obmann, dass in Österreichs einziger Millionenmetropole „in vielen Familien in der Früh nur mehr die Kinder aufstehen, weil die Eltern nicht arbeiten gehen“. Der FPÖ-Chef sprach gar von „einem Förderprogramm tschetschenischer Großfamilien“.
Ludwig verwies darauf, dass von den Kürzungen der Koalition vor allem Kinder, Pensionisten und Behinderte betroffen seien – 60 Prozent der Mindestsicherungsbezieher würden dem Arbeitsmarkt gar nicht zur Verfügung stehen. Ob sich Wien an den Verfassungsgerichtshof wenden wird, konnte er noch nicht sagen, dazu müsste erst der endgültige Gesetzestext vorliegen.
Blaue Angriffe und Provokationen
Obwohl in der Bundeshauptstadt planmäßig erst im Herbst 2020 gewählt werden soll, gossen die Freiheitlichen umgehend zusätzliches Öl ins Feuer: Verkehrsminister Norbert Hofer tat via Ö1 kund, dass es nach dem nächsten Urnengang wohl einen blauen Bürgermeister in Wien geben werde – ein Wechsel „täte der Stadt sehr gut“. Johann Gudenus, geschäftsführender Wiener FPÖ-Obmann und Klubchef im Parlament in Personalunion, warf der Stadtregierung vor, Zuwanderern zu hofieren: „Unser Sozialsystem auszunutzen kann künftig nicht mehr geduldet werden“, erklärte er, es sei „daher an der Zeit, die rot-grüne Fremdherrschaft über Wien zu beenden.“
Rote Zitate und türkise Kalkulationen
In der sonntäglichen ORF- Pressestunde rückte dann Kanzler Kurz mit einem vier Monate alten Zitat von Wiens Bildungsstadtrat Jürgen Czernohorszky (SPÖ) an. Im September hatte dieser in der Krone kritisiert, dass der Bund die Mittel für Brennpunktschulen gestrichen habe – und wortwörtlich erklärt, dass es dort Schüler gäbe, „die die Sprache nicht ordentlich können und daheim keine Unterstützung bekommen, vielleicht sogar die Einzigen sind, die in der Früh aufstehen“.
Dazu bekräftigte Kurz seine Kritik an Wien: Wenn sich die SPÖ „ertappt“fühle, dann werde statt einer Sachdiskussion eine „Welle der Empörung“erzeugt. Und schon deklinierte der Kanzler weitere Problemzahlen der Bundeshauptstadt herunter: Die Arbeitslosenquote liege dort bei 13 Prozent, 15.000 Menschen seien obdachlos, jeder zweite Mindestsicherungsbezieher (von insgesamt 130.746 mit Stand Dezember 2018, Anm.) kein österreichischer Staatsbürger. Ein Verkäufer mit drei Kindern bekomme derzeit inklusive aller Leistungen 2500 Euro netto im Monat, rechnete Kurz vor. Eine Flüchtlingsfamilie mit drei Kindern, in der niemand arbeite, erhalte in Wien dagegen 2660 Euro Mindestsicherung – das sei „Gift für die Gesellschaft“.
Dafür verteidigte der Kanzler die Caritas gegen die anhaltenden Attacken seines Koalitionspartners: „Von der aggressiven Wortwahl“halte er „nichts“, sagte Kurz. Die Kritik des Caritas-Präsidenten, dass es in Mehrkindfamilien ab dem dritten Kind nur noch 43 Euro Zuschuss geben soll, ließ er jedoch an sich abprallen.