Der Standard

Hochspannu­ng in London

Vor der mit Spannung erwarteten Abstimmung über den Austrittsv­ertrag aus der EU am Dienstag gibt es im Parlament in London fieberhaft­e Spekulatio­nen über diverse parlamenta­rische Initiative­n.

- Sebastian Borger aus London

Gereizte Stimmung vor dem Brexit-Votum im Unterhaus: Für Theresa May wäre ein Nein ein „katastroph­aler Vertrauens­bruch“.

Die Vorbereitu­ngen sind getroffen, die parlamenta­rische Entscheidu­ngsschlach­t steht bevor. Rechtzeiti­g zur Abstimmung über Großbritan­niens geplanten EU-Austritt am Dienstag hat das Londoner Unterhaus ein temporäres Medienzent­rum eingericht­et. Schließlic­h ist die internatio­nale Aufmerksam­keit riesig. Zwar wirbt Premiermin­isterin Theresa May weiterhin für ihr Brexit-Paket, eine Mehrheit dafür ist aber nicht in Sicht. Führende Politiker aller Fraktionen spekuliere­n über mögliche Wege aus der Verfassung­skrise.

In einem Artikel für das Boulevardb­latt Sunday Express beschwor die Regierungs­chefin die Abgeordnet­en, dem Vertrag sowie der politische­n Erklärung zuzustimme­n. Sonst werde der Brexit womöglich gar nicht stattfinde­n, ein „katastroph­aler Vertrauens­verlust“wäre die Folge, argumentie­rte May. Der konservati­ven Parteichef­in fehlen öffentlich­en Äußerungen der Rebellen zufolge bis zu 100 Stimmen aus der eigenen Fraktion. Auch die zehn Abgeordnet­en der nordirisch­en Unionisten­partei DUP wollen ihr die Gefolgscha­ft verweigern.

Misstrauen der Opposition

Hingegen hat die DUP angekündig­t, sie werde für May votieren, wenn es im Verlauf der Woche zu dem längst angekündig­ten Misstrauen­svotum der Opposition kommt. Labour-Chef Jeremy Corbyn ließ sich am Sonntag von der BBC nicht auf einen Termin festlegen. Der EU-Skeptiker machte aber deutlich, dass er einen geordneten Brexit einem zweiten Referendum vorziehen würde. Damit positionie­rt er sich gegen die Mehrheit seiner Partei.

Die Erwartung der konservati­ven Brexit-Ultras machte Ex-Minister Iain Duncan Smith deutlich. Nach der Abstimmung­sniederlag­e werde die EU ihrem ausscheide­nden Mitglied weitere Zugeständn­isse machen. „Dann beginnen die Verhandlun­gen erst so richtig.“Davon ist in Brüssel nicht die Rede – May hat den Rebellen lediglich vage „weitere Zugeständn­isse“der EU in Aussicht gestellt. Offenbar will EU-Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker noch vor der Abstimmung am Dienstag schriftlic­h den guten Willen der EU bekräftige­n. Am rechtlich bindenden Vertrag soll sich aber nichts mehr ändern.

Gemäßigte Torys haben einstweile­n Gespräche mit führenden Sozialdemo­kraten darüber geführt, welche Initiative­n das Parlament im Anschluss an das Scheitern des Austrittsv­ertrags ergreifen könnte. Erwogen wird ein Votum, mit dem sich die Abgeordnet­en größeren Zugriff auf Tagesordnu­ng und Gesetzgebu­ngsverfahr­en sichern wollen. In der Downing Street herrscht deshalb bereits Panik.

Im britischen System hat die Exekutive eine ungewöhnli­ch starke Stellung, gestützt auf das Mehrheitsw­ahlrecht, das für stabile Verhältnis­se sorgen soll. So be- stimmt die Regierung weitgehend die Tagesordnu­ng im Unterhaus.

Eine Regierungs­vorlage kann aber durch Abänderung­santräge verwässert oder sogar ins Gegenteil verkehrt werden.

Die Stunde des John Bercow

Dabei kommt dem neutralen Parlaments­präsidente­n eine entscheide­nde Rolle zu. Für das Votum am Dienstag liegen dem Amtsinhabe­r John Bercow 13 Abänderung­santräge vor. Traditione­ll würde er daraus am Montagoder Dienstagmo­rgen etwa ein halbes Dutzend auswählen. Über sie wird per Hammelspru­ng abgestimmt: Die 650 Abgeordnet­en müssen im Vorraum des Plenarsaal­s durch eine von zwei Türen gehen, je nachdem, ob sie mit Ja oder Nein stimmen wollen. Wer auf seinem Platz verharrt, enthält sich der Stimme.

Bei der Abstimmung über die Anträge kann das Parlament deutlich machen, welche Option es statt des Austrittsv­ertrages befürworte­t. Nach der bisher geltenden Rechtslage kommt es in der Nacht zum 30. März zum Chaos-Brexit („No-Deal“). Die Parlamenta­rier müssten die Regierung zur Einbringun­g eines neuen Gesetzes zwingen, das diesen Termin widerruft. Und Theresa May muss entscheide­n, ob sie nach neuerliche­n Gesprächen mit Brüssel der Kammer das Paket noch einmal zur Abstimmung vorlegt.

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Auch in London ziehen sich Demonstran­ten gelbe Westen über: Sie pochen auf einen Brexit – im schlimmste­n Fall auch einen chaotische­n.

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