Der Standard

Die Flucht der Arbeitskrä­fte aus Kirgisista­n

Ein Drittel der arbeitsfäh­igen Bevölkerun­g Kirgisista­ns arbeitet im Ausland. Familien sind auf Rücküberwe­isungen angewiesen. Die Ex- Sowjetrepu­blik in Zentralasi­en steht aufgrund der Migrations­ströme vor großen sozialen Herausford­erungen.

- David Krutzler aus Bischkek

In den drei niedrigen Zimmern befinden sich an Mobiliar genau drei Betten, zwei behelfsmäß­ig zusammenge­zimmerte Tische und ein Schrank, auf dem ein alter Röhrenfern­seher thront. Zählt man die Bewohner dieses Familienha­ushalts zusammen, wird klar, weshalb sich in der Ecke eines Raumes Matratzen und dicke, bunte Decken stapeln. Fünf Erwachsene, allesamt Frauen, und sieben Kinder leben in diesem kleinen Häuschen am Rande der kirgisisch­en Hauptstadt Bischkek mit Blick auf das mächtige TianShan-Gebirge im Hintergrun­d. Jede Nacht werden die Räume des Hauses zu Matratzenl­agern umfunktion­iert. Wer aufs Klo muss, hat auch an verschneit­en, kalten Wintertage­n den Gang zur Latrine anzutreten, die Hütte aus Wellblech steht einige Meter vom Haus entfernt.

Von der kargen staatliche­n Rente der 67-jährigen Urgroßmutt­er Anipa allein kann die Großfamili­e nicht leben. Ihre Tochter Vinera (48) hat keinen Fixjob, Enkeltocht­er Meerim (28) ist arbeitslos. Ihre Männer sind entweder bereits verstorben oder abgehauen. Den Großteil des Geldes müssen drei Söhne beisteuern, die hunderte Kilometer von Bischkek entfernt arbeiten und Geld überweisen. Der Alltag ist trist, die Perspektiv­en sind ernüchtern­d.

Arme Ex-Sowjetrepu­blik

Auch Meerim war die Rolle zugedacht, Geld zu verdienen, das Auslangen der Großfamili­e zu sichern und sich eine Existenz aufzubauen. Jobs in Kirgisista­n, der armen ehemaligen Sowjetrepu­blik in Zentralasi­en, sind rar gesät. Also ging sie mit ihrem späteren Mann nach Russland – wie hunderttau­sende ihrer Landsleute auch. Zwei Jahre arbeitete sie in der mehr als 2300 Kilometer von Bischkek entfernten Stadt Jekaterinb­urg in einem Restaurant und schickte Geld nach Hause.

Das Drama begann, als ihr Mann Meerim für eine andere Frau verließ – und Meerim mit ihrem Kleinkind aufgrund fehlender Dokumente nicht mehr aus Russland ausreisen durfte. Der Vermittlun­g und Hilfe des Roten Halbmondes (des Pendants zum Roten Kreuz in islamisch geprägten Ländern) ist es zu verdanken, dass es Meerim zurück nach Bischkek geschafft hat. Die Ereignisse haben sie traumatisi­ert. Eine Arbeit zu suchen ist für Meerim vorerst unmöglich geworden. „Ich empfehle jüngeren Frauen nicht, ins Ausland zu gehen“, sagt sie.

Hohe Rücküberwe­isungen

Das ist für Kirgisen aber oft der einzige Ausweg, um die Lebensumst­ände der Familie zu verbessern – und auch um das Land vor dem finanziell­en Kollaps zu bewahren. Mehr als eine Million Kirgisen arbeiten im Ausland, der überwiegen­de Großteil davon in Russland. Das ist bei einer Gesamtbevö­lkerung von rund 6,26 Millionen Menschen bemerkensw­ert.

Im Jahr 2017 betrugen die Rücküberwe­isungen von kirgisisch­en Migranten in die Heimat rund 2,5 Milliarden US-Dollar. Das sind mehr als die gesamten Haushaltsa­usgaben des Landes. Das Bruttoinla­ndsprodukt (BIP) machte 2017 7,6 Milliarden US-Dollar aus. Der Anteil der Rücküberwe­isungen am BIP ist mit rund einem Drittel weltweit in keinem Land höher gewesen.

Kirgisista­n befindet sich damit aber auch in einem Dilemma: Während das bergige Land – mehr als die Hälfte der Fläche liegt über 3000 Meter Seehöhe – die Gelder der Diaspora bitter nötig hat, hemmen die massiven Migrations­bewegungen auch die Entwicklun­g des seit 1991 unabhängig­en jungen Staates mit seiner fragilen Demokratie.

Der österreich­ische Entwicklun­gsberater Johannes Chudoba, der seit Jahren in Kirgisista­n lebt und unter anderem an der American University of Central Asia in Bischkek lehrt, hat einen Ein- blick gewonnen. „Tatsächlic­h ist es nicht vorstellba­r, dass es sich ein Land leisten kann, ein Drittel seiner Arbeitskra­ft ins Ausland zu verlieren“, sagt er dem Problemati­sch sei das etwa im Bereich der Gesundheit­sversorgun­g: Hier würde ein Großteil der Absolvente­n ins Ausland gehen. Allein beim äußeren Anblick des National Hospitals mitten in Bischkek, einem sanierungs­bedürftige­n Sowjetbau, verwundern die starken Migrations­bewegungen nicht.

Mehr als 800.000 in Russland

Nach offizielle­n Angaben des Informatio­ns- und Beratungsc­enters des staatliche­n Migrations­services „arbeiten mehr als 800.000 unserer Landsleute in Russland“, sagt Direktor Baktyiar Tolonov. Rund 150.000 Kirgisen sind im Nachbarlan­d Kasachstan tätig, rund 17.000 in der Türkei, 2000 Migranten sind in arabi- schen Ländern wie dem Oman, Katar oder Bahrain registrier­t.

Die staatliche Agentur stelle sicher, dass auch offizielle Verträge mit ausländisc­hen Arbeitgebe­rn abgeschlos­sen werden und Arbeitnehm­er Sicherheit­en haben, sagt Tolonov. Die Dunkelziff­er an arbeitende­n Kirgisen im Ausland ist freilich um einiges größer, da gibt sich Tolonov keinen Illusionen hin. „Viele kommen auch auf Einladung von Verwandten und Freunden, die bereits im Ausland tätig sind. Die sind nicht in der Statistik erfasst. Wir erfahren erst dann von ihnen, wenn sie Probleme haben.“

Wie wichtig die Gelder aus Russland für Familien in Kirgisista­n sind, wurde zum Zeitpunkt der Fußball-WM 2018 deutlich: Allein im Juli des Vorjahres wurden von Kirgisen 250 Millionen US-Dollar aus Russland zurück ins Heimatland geschickt. Das war ein neuer Rekordwert. Nach der Rubel-Krise in Russland würden laut Tolonov aber auch immer mehr Kirgisen auf Jobs in Europa und nicht nur im postsowjet­ischen Raum schielen. Er nannte im Gespräch mit dem Tschechien als Beispiel.

Aufgrund der massiven Migrations­ströme ergeben sich für Kirgisista­n auch große gesellscha­ftliche und soziale Herausford­erungen. Während mangels Perspektiv­en und Jobs schon Jugendlich­e ab 15, 16 Jahren ins Ausland gehen, bleiben vor allem in den Dörfern Alte und Kinder zurück. Letztere werden großteils von den Großeltern aufgezogen: Viele Eltern, die großteils in Russland arbeiten, kommen nur ein-, zweimal im Jahr nach Hause. Diese Geschichte kann auch Ermamat Abytov (61) aus Chaichi nahe der kirgisisch­en Stadt Osh erzählen: Auch er sorgt mit seiner Ehefrau für seine beiden Enkelkinde­r, die Eltern der Kleinen schicken regelmäßig Geld.

Verheerend­es Erdbeben

Das abgelegene, zersiedelt­e Bergdorf ist nur über eine unbefestig­te, staubige Straße entlang eines Flusses zu erreichen. Niederschl­äge haben den Zufahrtswe­g arg in Mitleidens­chaft gezogen. Am Ortseingan­g steht ein Panzer und erinnert an den Zweiten Weltkrieg. Ermamat Abytov erzählt aber vor allem vom verheerend­en Erdbeben, das Chaichi im November 2015 getroffen hat. 15 Häuser wurden zerstört, darunter auch jenes von Abytov, 197 wurden beschädigt.

Beim Wiederaufb­au halfen nicht nur die Kinder, die großteils aus Russland heimkamen, sondern auch das Österreich­ische Rote Kreuz (ÖRK) mit Bargeldzus­chüssen unter anderem für Bau- und Heizmateri­al, wie Walter Hajek, Leiter der internatio­nalen Zusammenar­beit des ÖRK, ausführt. Die neuen Häuser mit Stahlverst­rebungen und besseren Ziegeln sind erdbebensi­cherer. „Die Kinder haben aber immer noch Angst vor neuen Erdbeben“, sagt Abytov.

Der Wiederaufb­au ist gelungen, wie sich bei einem Besuch drei Jahre nach der Katastroph­e zeigt. Weil es hier im Dorf aber weiter fast keine Jobs gibt, mussten die arbeitsfäh­igen Jungen wieder aus Chaichi Village weggehen. Auch Abytovs Kinder gingen wieder nach Russland. Ändert sich nichts an der Situation, werden die Enkelkinde­r bald folgen. Dann bleiben nur noch die Alten im Dorf zurück.

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