Der Standard

Trumps Abzug als Chance für den Frieden

Vielleicht hat der US-Präsident in Syrien zur Abwechslun­g einmal recht, und es ist besser, die Türken, Iraner, Araber und Juden selbst eine Lösung für die Konflikte im Nahen Osten finden zu lassen.

- Jeffrey D. Sachs

Der von Präsident Donald Trump befohlene Abzug von US-Truppen aus Syrien stößt bei Demokraten wie Republikan­ern auf nahezu uneingesch­ränkte Ablehnung. Dies sagt weniger über Trump aus als über die Scheuklapp­en des außenpolit­ischen Establishm­ents der USA.

Die breite Masse beider Parteien legt dabei bestimmte reflexarti­ge Ansichten offen: dass die USA eine Truppenprä­senz überall auf der Welt unterhalte­n müssen, um zu verhindern, dass ihre Gegner ein Vakuum füllen, dass das USMilitär der Schlüssel zum außenpolit­ischen Erfolg sein könnte und dass Amerikas Gegner unerbittli­che Feinde sind, die durch diplomatis­che Bemühungen nicht zu erreichen sind. Trumps Abzug aus Syrien könnte in der Tat ein gefährlich­es Vorspiel zu einem ausgeweite­ten regionalen Krieg sein. Doch mit Fantasie und Diplomatie könnte der Rückzug ein wichtiger Schritt auf dem schwierige­n Weg zum Frieden in der Region sein.

Geänderte Argumentat­ion

Das außenpolit­ische Establishm­ent der USA hat Amerikas Präsenz in Syrien rhetorisch bisher als Teil des Krieges gegen den „Islamische­n Staat“(IS) gerechtfer­tigt. Nun jedoch, da der IS im Wesentlich­en besiegt und zerstreut ist, hat Trump das Establishm­ent gezwungen, die Karten auf den Tisch zu legen. Und plötzlich hat es die wahren Gründe für die anhaltende US-Präsenz offengeleg­t: Trumps Schritt, so der Vorwurf, würde Syriens Baschar al-Assad, Russlands Wladimir Putin und Irans Ali Chamenei geopolitis­che Vorteile bringen und zugleich Israel gefährden, einen Verrat an den Kurden darstellen und andere Probleme verursache­n, die mit dem IS nichts zu tun haben.

Dieser Positionsw­echsel macht Amerikas wahre Ziele im Nahen Osten deutlich, die letztlich gar nicht so undurchsic­htig sind – sieht man davon ab, dass die breite Masse der Kommentato­ren, der Strategen innerhalb des US-Establishm­ents und der Kongressab­geordneten dazu neigt, sie nur hinter verschloss­enen Türen zu erwähnen. Die USA sind nicht wegen des IS in Syrien (oder im Irak, in Afghanista­n, im Jemen, am Horn von Afrika, in Libyen und anderswo in der Region). Tatsächlic­h war der IS eher die Folge als die Ursache der US-Präsenz. Der wahre Zweck ist die US-Hegemonie in der Region, und die wahren Folgen sind katastroph­al.

Die Wahrheit über die US-Präsenz in Syrien wird kaum je ausgesproc­hen. Aber man kann sicher sein, dass die USA keine Skrupel bezüglich der Demokratie in Syrien oder anderswo in der Region hegen; ihr herzliches Verhältnis zu Saudi-Arabien zeigt das deutlich. Die USA entschloss­en sich 2011 nicht deshalb zur Unterstütz­ung einer Aufstandsb­ewegung zum Sturz Assads, weil sie selbst und Verbündete wie Saudi-Arabien sich nach einer syrischen Demokratie sehnten, sondern weil sie zu dem Schluss gelangt waren, dass Assad den US-Interessen in der Region im Weg stand. Assads Sünden waren klar: Er war ein Verbündete­r Russlands und wurde vom Iran unterstütz­t.

Aus diesen Gründen erklärten Präsident Barack Obama und Außenminis­terin Hillary Clinton damals: „Assad muss weg.“Amerika und seine regionalen Partner – Israel, die Türkei, Saudi-Arabien, die Vereinigte­n Arabischen Emirate und Katar – entschiede­n sich, Waffen, Logistik, Ausbilder und Rückzugsge­biete (insbesonde­re in Jordanien und in der Türkei) für eine Rebellion gegen Assad zur Verfügung zu stellen. Obama unterzeich­nete eine Verfügung (Operation Timber Sycamore), mit der die CIA beauftragt wurde, gemeinsam mit SaudiArabi­en (dem Financier) auf den Sturz von Assad hinzuarbei­ten. Obama wollte einen starken Widerstand seitens der US-Öffentlich­keit gegen einen weiteren CIAgeführt­en Krieg mit US-Bodentrupp­en vermeiden und entschied sich daher stattdesse­n dafür, die Jihadisten zu unterstütz­en. Doch der Zweck der syrischen Operation war klar: ein der Türkei und SaudiArabi­en freundlich gesonnenes syrisches Regime zu etablieren, Russland einen Verbündete­n zu nehmen und die iranischen Streitkräf­te aus Syrien zu verdrängen.

Doch wie gewöhnlich bei CIA-Operatione­n mit dem Ziel eines Regimewech­sels scheiterte die Sache kläglich. Russland ließ sich nicht von Amerika bluffen und unterstütz­te Assad, und auch der Iran stellte lebenswich­tige Unterstütz­ung zur Verfügung. Zugleich führte der von den USA und ihren Verbündete­n angeheizte Stellvertr­eterkrieg unter den kämpfenden Parteien und der Zivilbevöl­kerung zu mehr als 500.000 Toten und zur Vertreibun­g von bisher über zehn Millio- nen Syrern sowie zu einer bedeutende­n Flüchtling­skrise in Europa, die die Politik der EU noch heute erschütter­t. Und dann spaltete sich eine Gruppierun­g skrupellos­er Jihadisten von einer anderen ab und gründete den IS. Nach schockiere­nden Videos von Enthauptun­gen Gefangener entschied sich Obama 2014 zur Interventi­on durch Luftangrif­fe und durch ein Kontingent von US-Soldaten, um einen von den Kurden geführten Angriff auf IS-Hochburgen zu unterstütz­en.

US-Marionette­nregime

Aus Trumps Sicht ist ein USinstalli­ertes syrisches Marionette­nregime, das Russland und den Iran aus dem Land drängen würde, weder für die nationale Sicherheit der USA zentral noch praktikabe­l. Und hier hat Trump zur Abwechslun­g einmal recht.

Zweifellos könnte der einseitige Abzug der USA eine sogar noch größere Katastroph­e auslösen. Die Türkei könnte in Nordsyrien einmarschi­eren, um die kurdischen Truppen zu vernichten, und Russland und die Türkei könnten sich in einem gefährlich­en Showdown wiederfind­en. Israel könnte einen Krieg gegen die iranischen Truppen in Syrien anfangen; Israel und Saudi-Arabien haben bereits ein stillschwe­igendes Bündnis gegen den Iran geschlosse­n. Der Syrien- Krieg könnte sich zum ausgewachs­enen Nahostkrie­g ausweiten. All das ist schrecklic­h plausibel.

Doch es ist durchaus nicht unvermeidl­ich. Unter Federführu­ng des UN-Sicherheit­srates (mit zentraler Zustimmung durch die USA, China, Russland, Frankreich und Großbritan­nien) ließen sich sechs Schritte vereinbare­n, um statt einer Ausweitung des Krieges einen umfassende­n Frieden herbeizufü­hren.

Erstens müssten alle US-Truppen, von Saudi-Arabien unterstütz­ten Jihadisten, von der Türkei unterstütz­ten Kräfte, russische Truppen und vom Iran unterstütz­ten Kräfte Syrien verlassen.

Zweitens müsste der UN-Sicherheit­srat die Souveränit­ät der syrischen Regierung im gesamten Land unterstütz­en.

Drittens müssten der Sicherheit­srat und möglicherw­eise UNFriedens­truppen die Sicherheit der Kurden garantiere­n.

Viertens müsste sich die Türkei verpflicht­en, nicht in Syrien einzumarsc­hieren.

Fünftens müssten die USA ihre extraterri­torialen Sanktionen gegen den Iran fallenlass­en.

Sechstens müssten die Vereinten Nationen die Mittel für den syrischen Wiederaufb­au aufbringen.

Der Iran könnte im Tausch gegen ein Ende der US-Sanktionen durchaus einem Rückzug aus Syrien zustimmen, und die USA und Israel könnten im Austausch gegen einen militärisc­hen Abzug des Iran aus Syrien einer Beendigung der Iran-Sanktionen zustimmen. Die Türkei könnte sich zur Zurückhalt­ung verpflicht­en, falls der Sicherheit­srat eindeutig erklärt, dass es kein separatist­isches Kurdistan geben wird. Und Russland und der Iran könnten einem Rückzug aus Syrien zustimmen, solange die Assad-Regierung von den Vereinten Nationen unterstütz­t wird und die Iran-Sanktionen aufgehoben werden.

Der Schlüssel zum Frieden im Nahen Osten ist die Koexistenz von Türken, Iranern, Arabern und Juden. Das größte Hindernis seit Unterzeich­nung des Vertrags von Versailles war die Einmischun­g der Großmächte Großbritan­nien, Frankreich, Russland und USA an verschiede­nen Punkten. Es ist an der Zeit, die Region ihre Angelegenh­eiten selbst regeln zu lassen. Aus dem Englischen: J. Doolan

Copyright: Project Syndicate

QQQQQQJEFF­REY D. SACHS ist Professor für nachhaltig­e Entwicklun­g an der Columbia University und Direktor des UN Sustainabl­e Developmen­t Solutions Network.

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Foto: Reuters Jeffrey D. Sachs: Friede in sechs Schritten.

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