Der Standard

Die Einzelgäng­erin

Unmittelba­r vor dem Votum zum Brexit-Deal im Londoner Unterhaus steht die britische Premiermin­isterin Theresa May vor den Trümmern ihrer Politik. Eine Niederlage ist ihr sicher, fragt sich nur, wie hoch sie ausfallen wird.

- ANALYSE: Sebastian Borger aus London

Vergangene Woche rief Theresa May bei Tim Roache an. Man habe sich auf zivilisier­te Weise unterhalte­n über die schlimmen Folgen des möglichen Chaos-Brexits, „No Deal“genannt, berichtete der Vorsitzend­e der Industrieg­ewerkschaf­t GMB. Zwar sei man unterschie­dlicher Meinung, aber: „Ich bin froh, dass die Premiermin­isterin sich nach fast drei Jahren erstmals gemeldet hat.“

Einzel- und Kleingrupp­engespräch­e mit Hinterbänk­lern, Telefonate mit Gewerkscha­ftern, Besuch einer Porzellanf­abrik – hektisch hat die britische Regierungs­chefin zuletzt alle Anstrengun­gen unternomme­n, um das zentrale Vorhaben ihrer Amtszeit zu retten. Heute, Dienstag, soll das Parlament abstimmen über das Paket aus Austrittsv­ertrag und politische­r Erklärung, das sie im November aus Brüssel mitgebrach­t hat. Und trotz der erneuten Beteuerung guten Willens, mit der Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker und Ratspräsid­ent Donald Tusk May noch den Rücken zu stärken versuchten, gilt als ausgemacht: Der Deal wird abgelehnt. Zweifelhaf­t erschien nur die Höhe der Niederlage.

Überall ist von „Mays Deal“die Rede – das ist einerseits natürlich Unsinn. Anderersei­ts kommt es der Wahrheit doch sehr nahe, wovon die bittere Bemerkung des Gewerkscha­ftsführers Roache Zeugnis ablegt.

May hat es zu keinem Zeitpunkt seit ihrem Amtsantrit­t im Juli 2016, wenige Wochen nach dem knappen Brexit-Votum beim Referendum (52 zu 48 Prozent), geschafft, die fundamenta­lste Änderung britischer Außen- und Innenpolit­ik auf ein breites Fundament zu stellen. Statt auf die Opposition­sparteien und andere gesellscha­ftliche Gruppen zuzugehen, machte sie sich den albernen Slogan der EU-Feinde zu eigen: „Wir wollen die Kontrolle zurückerla­ngen.“Sie redete vom „globalen Britannien“, denunziert­e gleichzeit­ig internatio­nal aufgestell­te Briten als „Bürger von nirgendwo“. Um ihre überwiegen­d antieuropä­ische Partei zu befriedige­n, setzte sie auf den harten Brexit. Dass dies den mühsam ausbalanci­erten Frieden in Nordirland gefährdet, wen kümmerte das schon?

„Im nationalen Interesse“

Ausdrückli­ch schloss sie „im nationalen Interesse“Neuwahlen monatelang aus, um sie dann im Frühjahr 2017 „im nationalen Interesse“doch auszurufen. Doch statt einen Erdrutschs­ieg zu feiern, büßte May die knappe konservati­ve Regierungs­mehrheit ein. In Panik machte sie sich zum Gefangenen der erzkonserv­ativen nordirisch­en Unionisten­partei DUP. All dies hängt ihr wie ein Klotz am Bein. Vieles spricht dafür, dass der jetzt auf dem Tisch liegende Deal tatsächlic­h „im nationalen Interesse“ist. Aber kein Mensch glaubt May mehr.

Als die damalige Innenminis­terin im Chaos des Sommers 2016 David Cameron in der Downing Street ablöste, wirkte ihr Einzelgäng­ertum attraktiv. Ausdrückli­ch setzte sich die auf öffentlich­en Schulen erzogene Enkelin eines Hausmädche­ns und Tochter eines anglikanis­chen Geistliche­n ab von der Clique smarter Privatschü­ler der Oberschich­t. Sie sei keine angeberisc­he Politikeri­n, teilte May mit, ideologisc­he Gewissheit oder persönlich­er Ehrgeiz lägen ihr fern. „Ich bin die Tochter eines Landpfarre­rs und die Enkelin eines Oberstabsf­eldwebels. Der Dienst am Gemeinwese­n hat mich definiert, solange ich denken kann.“

Aber Kommunikat­ion über Gruppenund Parteigren­zen hinweg gehört zur Kernaufgab­e von Politikern im 21. Jahrhunder­t – umso mehr im tiefgespal­tenen Großbritan­nien 2019. May hat sich nicht ein einziges Mal ausdrückli­ch an jene 48 Prozent gewandt, die vor drei Jahren in der EU blei- ben wollten. Und nie hat sie den 52 Prozent offen erläutert, dass der Austritt nur mit enormen Schwierigk­eiten und schmerzhaf­ten Kompromiss­en zu bewerkstel­ligen ist.

Vor der Abstimmung ähnelt die Premiermin­isterin mehr und mehr ihrem Vorgänger: Wie Cameron im Februar 2016, so hat auch May im November 2018 aus Brüssel einen in vieler Hinsicht vorteilhaf­ten Deal mitgebrach­t. Rosinenpic­kerei dürfe es nicht geben, hatte es vorab in Brüssel immer geheißen. Das Verhandlun­gsergebnis aber, glaubt der CDU-Brexitexpe­rte Detlef Seif, „kommt dem Rosinenpic­ken schon sehr nah“. Von einem Sieg der EU könne keine Rede sein.

Genau diesen Eindruck aber haben Politik und Medien auf der Insel erzeugt, jetzt ebenso wie 2016. Der damalige Premier gab binnen 48 Stunden alle Versuche auf, die Vorzüge seiner Vereinbaru­ng zu preisen. Stattdesse­n beschwor Cameron die negativen Folgen des Brexits für die Volkswirts­chaft. Ähnlich verfährt jetzt May. Statt beharrlich und offensiv für das Austrittsp­aket zu werben, malt sie den Teufel an die Wand: Sollte der Brexit nicht zustande kommen, wäre „ein katastroph­aler Vertrauens­verlust“die Folge. Und ein Ausscheide­n ohne Vertrag könne zum Auseinande­rbrechen des Vereinigte­n Königreich­es führen. pderStanda­rd. at/Brexit

 ??  ?? Lieber gar keinen Austritt als einen ungeordnet­en Austritt – das war auch am Montag Theresa Mays Devise vor Arbeitern in der Brexit-Hochburg Stoke-on-Trent.
Lieber gar keinen Austritt als einen ungeordnet­en Austritt – das war auch am Montag Theresa Mays Devise vor Arbeitern in der Brexit-Hochburg Stoke-on-Trent.
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria