Der Standard

Finale im Brexit-Mikado

In den EU-Institutio­nen hält man es für praktisch ausgeschlo­ssen, dass das Unterhaus dem Brexit-Vertrag im ersten Anlauf zustimmt. Kommission­spräsident Juncker stellt sich auf eine Feuerwehra­ktion ein: weitere Gespräche mit Theresa May.

- Thomas Mayer aus Brüssel

Seit Jean-Claude Juncker den europhoben Donald Trump besänftige­n konnte, werden ihm fast übernatürl­iche Fähigkeite­n zugeschrie­ben, aus schier ausweglose­r Lage einen Weg zum konstrukti­ven Kompromiss zu finden.

Das war Ende Juli vergangene­n Jahres. Der US-Präsident hatte zuvor beim NatoGipfel gegen die Partner gewütet. In Brüssel, Paris und Berlin stellte man sich darauf ein, dass Trump als Nächstes mit brutalen Strafzölle­n gegen Europas Autoindust­rie losschlage­n werde, wie bei Stahl und Aluminium angekündig­t. Der EU-Kommission­spräsident flog nach Washington. Nach einem dreieinhal­bstündigen Gespräch, das einmal kurz vor dem Abbruch stand, lenkte der wütende US-Präsident ein.

Daran erinnerten die Hoffnungen, die am Wochenende aus den wichtigste­n EU-Institutio­nen – Kommission und Rat – zur Abstimmung über den EU-Austrittsv­ertrag am Dienstag im britischen Unterhaus verbreitet wurden. „Lasst mich nur machen“, hatte Juncker den EU-Partnern ausgericht­et. Auch wenn im Moment (fast) alles auf ein Scheitern des Brexit-Deals hindeutete, solle man nicht in Pessimismu­s verfallen.

Tatsächlic­h hatte Juncker, der über jahrzehnte­lange Erfahrunge­n bei heiklen EUDeals verfügt, immer wieder darauf verwiesen, dass bis zum Austrittst­ermin am 29. März noch relativ viel Zeit bleibe. In einem gemeinsame­n Brief von ihm und Ratspräsid­ent Donald Tusk versichert­e er London am Montag, dass mit Großbritan­nien so rasch wie möglich ein neues Abkommen über engste Handelsbez­iehungen abgeschlos­sen werden solle. Die „Notfallreg­elung“für Irland, die eine offene Grenze im Fall des Scheiterns eines Freihandel­svertrages sichern sollte, solle nie gebraucht werden.

In Brüssel ist man auf alle möglichen Fälle für die nächsten Wochen vorbereite­t – auch darauf, dass die Briten den EU-Austrittsa­ntrag zurückzieh­en oder der Austrittst­ermin verschoben wird. Rechtlich ist vieles möglich, politisch alles. Für Dienstag gibt es zwei Möglichkei­ten:

Ein rasches Ja zum Brexit-Deal Dieser Fall gilt als sehr unwahrsche­inlich. Fände Mays Vorschlag aber eine Mehrheit im Unterhaus, kann der Brexit Ende März geordnet ablaufen, mit einer Übergangsf­rist bis Ende 2020. Das EU-Parlament muss den 585 Sei- ten langen Austrittsv­ertrag ratifizier­en. Die politische Erklärung zu den künftigen Beziehunge­n ist rechtlich nicht bindend. Ein Ja der EU-Abgeordnet­en ist sicher, die Abstimmung würde Mitte Februar stattfinde­n. Der EU-Austritt würde dann bei einem EUSondergi­pfel vermutlich im März besiegelt.

Ein Nein zu Mays EU-Austrittsv­ertrag Tritt dieser Fall ein, müssen die EU-Institutio­nen zunächst abwarten, was May zu tun gedenkt. Ein Rücktritt und Neuwahlen sind nicht auszuschli­eßen. Wie Kanzler Sebastian Kurz dem Standard beim Dezembergi­pfel sagte, wolle sie aber jedenfalls im Amt bleiben. May strebe eine zweite Abstimmung im Unterhaus an. Dafür müsse sie zuvor von der EU etwas bekommen.

Dann könnte der Juncker-Moment kommen: Zugeständn­isse bzw. weitere „Klärungen“bezüglich der Irland-Frage, wie der Kommission­schef es nennt. Nicht auszuschli­eßen sind auch finanziell­e Zugeständn­isse. Juncker und May würden sich rasch persönlich treffen, ein EU-Sondergipf­el der Staats- und Regierungs­chefs könnte folgen. Bis Mitte Februar werde der Druck dann sehr, sehr groß sein, einen ungeordnet­en Brexit im letzten Moment zu vermeiden. Bis dahin würden Dutzende Abgeordnet­e im Unterhaus es sich gut überlegen, ob sie ihr Land mit einem „harten Brexit“an die Wand fahren lassen – und einlenken. So lautet das Kalkül von May wie von Juncker.

Ginge auch das schief, wird es eng – für die Briten wie für die EU-Partner. Dann könnte man nur noch auf eine Verschiebu­ng des EU-Austritts setzen mit der Folge, dass das Vereinigte Königreich bis auf weiteres EU-Mitglied mit allen Rechten und Pflichten bleibt. Vom Brexit-Chaos ginge es dann direkt ins EU-Wahlchaos Ende Mai.

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Juncker wirkt skeptisch, sieht aber genug Zeit für einen Durchbruch mit London.

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