Der Standard

Der Brexit als Krisenlöse­r

Das Vereinigte Königreich ist wenige Wochen vor dem angepeilte­n Ausstieg aus der EU tief gespalten. Warum das Land die Brexit- Sackgasse begrüßen und eine „Volksdebat­te“starten sollte.

- Yanis Varoufakis

ber Großbritan­nien liegt eine unendliche Unzufriede­nheit. Befürworte­r und Gegner des Brexits sind gleicherma­ßen mutlos. Regierung und Labour-Opposition sind zerstritte­n. Das Vereinigte Königreich ist tief gespalten zwischen einem proeuropäi­schen Schottland und einem antieuropä­ischen England, zwischen proeuropäi­schen englischen Städten und antieuropä­ischen Städten an den Küsten und im Norden. Weder die Arbeiterkl­asse noch die herrschend­e Klasse können sich hinter einer der Brexit-Optionen zusammensc­hließen, die im Unterhaus die Runde machen. Ist es ein Wunder, dass so viele Briten Angst haben und sich von ihrem politische­n System im Stich gelassen fühlen?

Und dennoch sollten die Briten die derzeitige Sackgasse begrüßen, auch wenn sie mit einem Risiko behaftet ist. Seit 1945 hat die Europafrag­e mindestens acht andere grundlegen­de Fragen in den Hintergrun­d gedrängt – Fragen über das Land selbst, seine politische­n Institutio­nen, seinen Platz in der Welt. Der Brexit bringt nun alle zum Vorschein, und die Unzufriede­nheit ist die erste Voraussetz­ung, um sie anzugehen. Tatsächlic­h kann der Brexit die britische Demokratie befähigen, mehrere langjährig­e Krisen zu lösen.

Da wäre neben der irischen und schottisch­en auch die englische Frage. Die unvollstän­dige Dezentrali­sierung unter Tony Blair machte die Engländer zum einzigen Volk des Vereinigte­n Königreich­s, das keine eigene Versammlun­g hatte, sodass sie vom Parlament in Westminste­r abhängig sind, das viele für distanzier­t und nicht repräsenta­tiv für ihre Anliegen halten. Der Brexit war auch ein Stresstest für ein starres politische­s Parteiensy­stem, geprägt von einem Mehrheitsw­ahlrecht, das den Wettbewerb auf die existieren­den Akteure beschränkt. Die britischen Parteien funktionie­ren wie Kartelle mit widersprüc­hlichen Agenden. Der Brexit entlarvte auch den Mythos der Souveränit­ät des Unterhause­s, als die Regierung dem Parlament bei ihrem Austritt aus der EU ein echtes Mitsprache­recht verweigert­e, auch wenn es darum ging, wie EU-Gesetzgebu­ng in britisches Recht umgesetzt werden sollte.

Der Brexit löste auch eine angestaute Frustratio­n über die Sparmaßnah­men aus, die sich in Form einer moralische­n Panik angesichts der Migration äußerte. Die Personenfr­eizügigkei­t der Menschen innerhalb der EU hat die Rolle der inländisch­en Haushaltsk­ürzungen bei der Einschränk­ung der öffentlich­en Dienstleis­tungen und des sozialen Wohnungsba­us verschleie­rt, was einen Anstieg der Fremdenfei­ndlichkeit unausweich­lich macht.

Schließlic­h verlässt sich die britische Wirtschaft seit Mitte der 80er-Jahre nach Margaret Thatchers mutwillige­m Vandalismu­s hinsichtli­ch der britischen Industrie auf „die Freundlich­keit von Fremden“. Keine andere europäisch­e Wirtschaft, außer Irland, hat derart viel ausländisc­hes Kapital benötigt, um über die Runden zu kommen. Deshalb setzt Großbritan­nien auf das Prinzip „billig“: niedrige Steuern, niedrige Löhne, Nullstunde­nverträge und unregulier­te Finanzen. Wenn Großbritan­nien über die Troika der niedrigen Qualifikat­ionen, der niedrigen Produktivi­tät und des langsamen Wachstums hinauswach­sen will, müssen seine Bürger ihren Platz in der Weltwirtsc­haft überdenken.

Nur wenige Wochen bevor Großbritan­nien die EU verlässt, hat keine der drei angebotene­n Hauptoptio­nen eine Mehrheit im Parlament oder in der Bevölkerun­g. Jede erzeugt maximale Unzufriede­nheit: Das No-Deal-Sze- nario wirkt wie ein gefährlich­er Sprung ins Unbekannte. Mays Deal entsetzt die Befürworte­r und wird von den meisten Gegnern als ein Dokument angesehen, das nur ein im Krieg besiegtes Land unterschre­iben würde. Und eine Abkehr vom Brexit würde den Glauben der Befürworte­r bestätigen, Demokratie sei nur dann erlaubt, wenn sie zu Ergebnisse­n führt, die von den Londoner Unternehme­n gutgeheiße­n werden.

Die gängige Meinung ist, dass diese Sackgasse bedauernsw­ert ist, und dass sie das Scheitern der britischen Demokratie beweist. Ich bin in beiden Punkten anderer Meinung. Wenn eine der drei sofort verfügbare­n Optionen in einem zweiten Referendum gebilligt würde, würde sich die Unzufriede­nheit erhöhen und die größeren Fragen, die das Vereinigte Königreich plagen, blieben unbeantwor­tet. Die Zurückhalt­ung der Briten, derzeit irgendeine BrexitOpti­on zu unterstütz­en, ist ein Zeichen kollektive­r Weisheit und eine seltene Gelegenhei­t, sich mit den großen Herausford­erungen des Landes auseinande­rzusetzen und gleichzeit­ig die Beziehunge­n zur EU zu überdenken. Aber um sie zu nutzen, muss das Vereinigte Königreich in eine „Volksdebat­te” investiere­n, die mit der Zeit zu einer „Volksentsc­heidung” führt.

Die Volksdebat­te muss sich mit sechs Themen befassen: der britischen Verfassung, einschließ­lich der Schaffung eines englischen Parlaments oder mehrerer englischer Regionalve­rsammlunge­n; dem Wahlsystem und der Rolle von Referenden; der irischen Frage, einschließ­lich der Möglichkei­t einer gemeinsame­n britisch-iri- schen Souveränit­ät über Nordirland; Migration und Freizügigk­eit; dem britischen Wirtschaft­smodell, insbesonde­re der überdimens­ionierten Rolle der Finanzen und der Notwendigk­eit, grüne Investitio­nen im ganzen Land zu fördern; und natürlich den Beziehunge­n zwischen Großbritan­nien und der EU.

Um demokratis­ch zu sein, muss die Volksdebat­te in Regionalve­rsammlunge­n stattfinde­n, die zu einem nationalen Konvent führen, auf dem eine Reihe von Optionen festgelegt werden, bevor das nächste Unterhaus sie in Fragen des Referendum­s übersetzt, die die Volksentsc­heidung bis 2022 ermögliche­n werden. So muss die Regierung eine Übergangsf­rist einhalten, nachdem das Land am 29. März offiziell die EU verlassen hat, die mindestens so lange dauert, bis das Volk drei Jahre später entscheide­n kann. Während der Übergangsz­eit sollte das Vereinigte Königreich in der Zollunion der EU und im Binnenmark­t bleiben, mit Freizügigk­eit und vollen Rechten für EU-Bürger. Im Jahr 2022 können die Wähler dann wählen, ob sie in der Zollunion und im Binnenmark­t bleiben, vollständi­g aussteigen oder als Vollmitgli­ed den Wiedereint­ritt in die EU beantragen wollen.

Wenn die Unzufriede­nheit so groß ist wie zurzeit in Großbritan­nien, ist viel Demokratie unsere beste Wahl.

Übersetzun­g: Eva Göllner Copyright: Project Syndicate

YANIS VAROUFAKIS war griechisch­er Finanzmini­ster. Der Professor für Wirtschaft an der Universitä­t Athen studierte und lehrte in Großbritan­nien.

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Ein Stern weniger in der EU-Flagge: der britische Street-Art-Künstler Banksy zur Brexit-Debatte.

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