Der Standard

Tag der Entscheidu­ng: Brexit oder Brexitexit

Es war ein Fehler der EU-27, beim Austrittst­ermin der Briten allzu schwammig zu sein

- Thomas Mayer

Am Tag vor der Abstimmung über den Vertragsen­twurf zum EUAustritt des Vereinigte­n Königreich­es schwirrten in Brüssel und in den EU-Hauptstädt­en die Gerüchte so wild wie nie zuvor umher, wie es nach dem Votum wohl weitergehe­n werde.

Wenn gut hundert Abgeordnet­e der eigenen Partei gegen den Brexit-Vertrag stimmen und Theresa May eine peinlich schwere Niederlage zufügen, werde der Premiermin­isterin wohl nichts anderes übrigbleib­en als der Rücktritt, glauben die einen. Nein, May werde sicher weiterkämp­fen, meinen die anderen im konservati­ven Lager. Sie werde in eine zweite Abstimmung gehen. Bevor sie zurücktret­e, würde sie eher noch in Neuwahlen flüchten und damit das Volk quasi direkt entscheide­n lassen, welche Art von EU-Austritt es wolle: geordnet mit ihr oder im Chaos.

Wieder andere in London hoffen auf eine Fristverlä­ngerung des Austrittst­ermins 29. März. Die EU werde schon einknicken, dann werde man weitersehe­n, neu verhandeln. Das glaubt der Opposition­sführer von Labour, Jeremy Corbyn. Er hat sich als hartnäckig­er linker EU-Gegner und BrexitBefü­rworter erwiesen – gegen die breite Mehrheit seiner eigenen Partei, die ihn beim Parteitag stärkte.

Corbyn will den EU-Austritt, weil die europäisch­en Regeln sein Land an üppigen staatliche­n Programmen hinderten. Die Hardliner bei den Tories sind aus genau den umgekehrte­n Gründen gegen Mays Deal mit Brüssel: Sie wollen zurück zum Thatcherli­beralismus, möglichst wenige Fesseln im Wettbewerb mit dem Rest der Welt. haos pur, wenn man bedenkt, dass das Brexit-Referendum vor mehr als zweieinhal­b Jahren stattgefun­den hat – ein Ausdruck der politische­n Unfähigkei­t. Auf die Briten ist kein Verlass. Es herrscht eine Polarisier­ung, Verhärtung und Lähmung, wie wir sie auch beim traditione­llen Verbündete­n der Briten, den USA, sehen, seit Donald Trump mit Populismus die Szene aufmischt.

Das vor allem sollte man sich vor Augen führen beim Gedanken daran, dass man mit dem Land nach dem EUAustritt irgendwann wieder normale Beziehunge­n führen will. Es wird jedenfalls schwierig, so oder so. Mehr Klarheit wäre gefragt. In dieses negative Bild passen die hilflosen Versuche aus den EU-Institutio­nen und

CPartnerst­aaten, mit Appellen an die Vernunft etwas Ruhe und Ordnung in die Sache zu bringen. 100 EU-Abgeordnet­e aus fast allen Fraktionen in Straßburg bitten die Briten in einem Brief inständig, sich den Brexit doch noch einmal zu überlegen. Kommission­schef Jean-Claude Juncker und Ratskolleg­e Donald Tusk schrieben einen Brief an London, in dem sie erklären, dass man über alles reden könne, nur nicht über Neuverhand­lungen beim (rechtlich verbindlic­hen) Austrittsv­ertrag.

Das ist nett, führte aber schon seit Monaten nicht weiter. Die EU-Appel- le bedeuten: Wir sind selbst unschlüssi­g, können nichts tun als abzuwarten, ob und wie sich das politische Chaos in Großbritan­nien auflöst – nicht gerade ein Zeichen von Stärke. Vermutlich war es ein Fehler der EU-27, zu glauben, dass der Brexit sich irgendwie durch ein zweites Referendum verhindern ließe, wenn man sich dafür bis zuletzt offen zeigt. Nun droht das britische Chaos in die EU-Wahlen hinüberzus­chwappen, was die Union bei der Neuwahl des EU-Parlaments wie auch bei der Zusammenst­ellung der neuen EU-Kommission im Sommer weiter zu lähmen droht.

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