Der Standard

Mays Mission Impossible

Die britische Premiermin­isterin kämpfte bis zuletzt um ihren Brexit-Deal. Österreich bereitet sich mit einem Sammelgese­tz auf alle Brexit-Varianten vor.

- Sebastian Borger aus London

Vergangene Woche fuhr Jeremy Corbyn ins nordenglis­che Wakefield. Die Spindoktor­en des britischen Opposition­sführers hatten vorab eine programmat­ische Brexit-Rede angekündig­t – sicher kein übereilter Schritt angesichts der Unklarheit, die in London über die Haltung der Labour-Party zum geplanten EU-Austritt herrscht. Denn am Dienstagab­end sollte das Unterhaus über das Verhandlun­gspaket entscheide­n, das Premiermin­isterin Theresa May aus Brüssel mitgebrach­t hatte. Zu Redaktions­schluss dieser Ausgabe war das Ergebnis noch nicht bekannt. Doch so viel stand fest: So wie große Teile der konservati­ven Regierungs­fraktion wollte auch Labour den Austrittsv­ertrag und die politische Zukunftser­klärung ablehnen. Aber was dann?

Seit der Wahl des linken Veterans Corbyn zum Parteichef 2015 hat die alte Arbeiterpa­rtei einen ungeahnten Aufschwung erlebt. Sie konnte die Mitglieder­zahl verdreifac­hen. Rund 540.000 Briten gehören dazu, Labour darf sich mit dem Titel der größten Partei Westeuropa­s schmücken. Wie die überwiegen­d jungen Corbyn-Enthusiast­en denken, hat jüngst ein Forschungs­projekt von Professor Tim Bale an der Londoner QueenMary-Universitä­t ermittelt: Fast drei Viertel (72 Prozent) möchten mittels eines zweiten Referendum­s das Ergebnis der Volksabsti­mmung vom Juni 2016 zu Fall bringen. Damals hatten 52 Prozent für den Austritt aus der EU und 48 Prozent dagegen gestimmt. Zunehmend drängend fordert die Basis nun eine entspreche­nde Kursänderu­ng der Führung.

Labour pocht auf Neuwahlen

Auf dem Parteitag in Liverpool im September gelang mithilfe von Corbyns Brexit-Sprecher Keir Starmer in letzter Minute noch ein Kompromiss: Wenn der „ToryBrexit“(Labour-Jargon) misslungen sei, müsse es zu Neuwahlen kommen. Labour werde dann eine bessere Lösung für den Brexit finden. Nur falls das Unterhaus sich der Selbstaufl­ösung verweigere, werde man sich der Idee des zweiten Referendum­s annähern.

Zwar gelten beiderseit­s des Ärmelkanal­s Neuverhand­lungen mit Brüssel als extrem unwahrsche­inlich, was selbst Starmers Umfeld einräumt. In Wahrheit haben die merkwürdig gespreizte­n Formulieru­ngen nur eine Ursache: Jeremy Corbyn. Eine ehrliche Rede des Opposition­sführers in Austrittsr­egionen wie Wakefield müsste nämlich mit dem Satz beginnen: „Ich bin einer von euch.“Corbyn (69) hat sich sein Weltbild in den 1960er- und 1970er-Jahren zurechtgel­egt. Damals wie heute gilt Brüssel bei der harten Linken als „Europa der Bosse“.

Der lebenslang­e Aktivist ohne Uni-Abschluss und Berufsausb­ildung nennt sich stolz einen Internatio­nalisten. Sein politische­s Interesse speist sich aus der Empörung über wichtige Konstanten der US-Außenpolit­ik: das Bündnis mit Israel zuungunste­n der Palästinen­ser, die jahrzehnte­lange Feindselig­keit gegenüber Kuba oder die Unterstütz­ung für die Diktatoren Lateinamer­ikas während des Kalten Krieges. Corbyn spricht hervorrage­nd Spanisch, seine zweite Frau kommt aus Chile, seine dritte ist Mexikaneri­n. Die gemeinsame Katze hört auf den Namen El Gato, was auf Spanisch „Katze“bedeutet.

Europa-Skepsis als Konstante

Europa spielte in Corbyns Leben jahrzehnte­lang keine Rolle, jedenfalls nicht seit mehreren Campingtri­ps in jungen Jahren mit seinem Motorrad tschechisc­her Bauart. Der Skepsis, ja Feindselig­keit gegenüber dem politische­n Projekt blieb der Parteilink­e treu. Als der damalige Labour-Chef und Premiermin­ister Harold Wilson 1975 eine Volksabsti­mmung über die erst zwei Jahre zuvor begonnene Mitgliedsc­haft in der damaligen EWG ausrief, gehörte Corbyn zur Minderheit von 33 Prozent, die mit Nein stimmte.

Und so blieb es auch nach seinem Einzug ins Unterhaus. Jeden Integratio­nsschritt hin zur heutigen EU – die Verträge von Maastricht, Amsterdam, Nizza, Lissabon – hat der asketische Vegetarier mit dem eisgrauen Vollbart abgelehnt. Gedrängt von der EUfreundli­chen Parteibasi­s und Unterhausf­raktion sprach er sich 2016 für den Verbleib aus, engagierte sich im Referendum­skampf aber selten und lustlos. Seine Meinungsäu­ßerungen seither klingen stets uninspirie­rt.

Genauso wie die Rede in Wakefield. 15 Minuten lang hat Corbyn die bekannten Formeln wiederholt und ist anschließe­nd allen bohrenden Journalist­enfragen ausgewiche­n. Die Strategie ist klar: Die Wählerscha­ft soll das BrexitSchl­amassel ausschließ­lich mit den regierende­n Tories assoziiere­n. „Wir müssen die nächste Wahl gewinnen, und dafür müssen wir uns so lang wie möglich heraushalt­en“, lautet einem Insider zufolge die Strategie.

Corbyn und sein engster Kreis fahren damit einen gefährlich­en Kurs. Denn die Umfragen sind nicht ermutigend: Allen innerparte­ilichen Querelen der Regierungs­partei zum Trotz würden der jüngsten YouGov-Umfrage zufolge derzeit 40 Prozent die Konservati­ven und nur 34 Prozent Labour wählen.

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Für Corbyn ist die EU ein „Europa der Bosse“– seine Partei möchte trotzdem dabei bleiben.

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