Mays Mission Impossible
Die britische Premierministerin kämpfte bis zuletzt um ihren Brexit-Deal. Österreich bereitet sich mit einem Sammelgesetz auf alle Brexit-Varianten vor.
Vergangene Woche fuhr Jeremy Corbyn ins nordenglische Wakefield. Die Spindoktoren des britischen Oppositionsführers hatten vorab eine programmatische Brexit-Rede angekündigt – sicher kein übereilter Schritt angesichts der Unklarheit, die in London über die Haltung der Labour-Party zum geplanten EU-Austritt herrscht. Denn am Dienstagabend sollte das Unterhaus über das Verhandlungspaket entscheiden, das Premierministerin Theresa May aus Brüssel mitgebracht hatte. Zu Redaktionsschluss dieser Ausgabe war das Ergebnis noch nicht bekannt. Doch so viel stand fest: So wie große Teile der konservativen Regierungsfraktion wollte auch Labour den Austrittsvertrag und die politische Zukunftserklärung ablehnen. Aber was dann?
Seit der Wahl des linken Veterans Corbyn zum Parteichef 2015 hat die alte Arbeiterpartei einen ungeahnten Aufschwung erlebt. Sie konnte die Mitgliederzahl verdreifachen. Rund 540.000 Briten gehören dazu, Labour darf sich mit dem Titel der größten Partei Westeuropas schmücken. Wie die überwiegend jungen Corbyn-Enthusiasten denken, hat jüngst ein Forschungsprojekt von Professor Tim Bale an der Londoner QueenMary-Universität ermittelt: Fast drei Viertel (72 Prozent) möchten mittels eines zweiten Referendums das Ergebnis der Volksabstimmung vom Juni 2016 zu Fall bringen. Damals hatten 52 Prozent für den Austritt aus der EU und 48 Prozent dagegen gestimmt. Zunehmend drängend fordert die Basis nun eine entsprechende Kursänderung der Führung.
Labour pocht auf Neuwahlen
Auf dem Parteitag in Liverpool im September gelang mithilfe von Corbyns Brexit-Sprecher Keir Starmer in letzter Minute noch ein Kompromiss: Wenn der „ToryBrexit“(Labour-Jargon) misslungen sei, müsse es zu Neuwahlen kommen. Labour werde dann eine bessere Lösung für den Brexit finden. Nur falls das Unterhaus sich der Selbstauflösung verweigere, werde man sich der Idee des zweiten Referendums annähern.
Zwar gelten beiderseits des Ärmelkanals Neuverhandlungen mit Brüssel als extrem unwahrscheinlich, was selbst Starmers Umfeld einräumt. In Wahrheit haben die merkwürdig gespreizten Formulierungen nur eine Ursache: Jeremy Corbyn. Eine ehrliche Rede des Oppositionsführers in Austrittsregionen wie Wakefield müsste nämlich mit dem Satz beginnen: „Ich bin einer von euch.“Corbyn (69) hat sich sein Weltbild in den 1960er- und 1970er-Jahren zurechtgelegt. Damals wie heute gilt Brüssel bei der harten Linken als „Europa der Bosse“.
Der lebenslange Aktivist ohne Uni-Abschluss und Berufsausbildung nennt sich stolz einen Internationalisten. Sein politisches Interesse speist sich aus der Empörung über wichtige Konstanten der US-Außenpolitik: das Bündnis mit Israel zuungunsten der Palästinenser, die jahrzehntelange Feindseligkeit gegenüber Kuba oder die Unterstützung für die Diktatoren Lateinamerikas während des Kalten Krieges. Corbyn spricht hervorragend Spanisch, seine zweite Frau kommt aus Chile, seine dritte ist Mexikanerin. Die gemeinsame Katze hört auf den Namen El Gato, was auf Spanisch „Katze“bedeutet.
Europa-Skepsis als Konstante
Europa spielte in Corbyns Leben jahrzehntelang keine Rolle, jedenfalls nicht seit mehreren Campingtrips in jungen Jahren mit seinem Motorrad tschechischer Bauart. Der Skepsis, ja Feindseligkeit gegenüber dem politischen Projekt blieb der Parteilinke treu. Als der damalige Labour-Chef und Premierminister Harold Wilson 1975 eine Volksabstimmung über die erst zwei Jahre zuvor begonnene Mitgliedschaft in der damaligen EWG ausrief, gehörte Corbyn zur Minderheit von 33 Prozent, die mit Nein stimmte.
Und so blieb es auch nach seinem Einzug ins Unterhaus. Jeden Integrationsschritt hin zur heutigen EU – die Verträge von Maastricht, Amsterdam, Nizza, Lissabon – hat der asketische Vegetarier mit dem eisgrauen Vollbart abgelehnt. Gedrängt von der EUfreundlichen Parteibasis und Unterhausfraktion sprach er sich 2016 für den Verbleib aus, engagierte sich im Referendumskampf aber selten und lustlos. Seine Meinungsäußerungen seither klingen stets uninspiriert.
Genauso wie die Rede in Wakefield. 15 Minuten lang hat Corbyn die bekannten Formeln wiederholt und ist anschließend allen bohrenden Journalistenfragen ausgewichen. Die Strategie ist klar: Die Wählerschaft soll das BrexitSchlamassel ausschließlich mit den regierenden Tories assoziieren. „Wir müssen die nächste Wahl gewinnen, und dafür müssen wir uns so lang wie möglich heraushalten“, lautet einem Insider zufolge die Strategie.
Corbyn und sein engster Kreis fahren damit einen gefährlichen Kurs. Denn die Umfragen sind nicht ermutigend: Allen innerparteilichen Querelen der Regierungspartei zum Trotz würden der jüngsten YouGov-Umfrage zufolge derzeit 40 Prozent die Konservativen und nur 34 Prozent Labour wählen.