Der Standard

Das Volk spielt nicht mit

Präsident Macron hat am Dienstag in der tiefen französisc­hen Provinz die Volksdebat­te über die Anliegen der Gelbwesten lanciert. Bloß spielt das Volk nicht mit, wie ein Lokalaugen­schein zeigt.

- REPORTAGE: Stefan Brändle aus Bourgthero­ulde

Nach den Gelbwesten-Protesten in Frankreich startet Präsident Macron die Volksdebat­te – einzig das Volk spielt nicht mit.

So muss es am Vorabend der großen Revolution von 1789 gewesen sein. Der 4200-Einwohner-Ort Brionne ist bereits zur Ruhe gekommen, keine Katze schleicht über die nassschwar­zen Gehsteige. Nur aus einem zusammenge­schusterte­n Wellblechv­erschlag am Rande eines Kreisverke­hrs dringen an diesem Montagaben­d noch Stimmen. „Wenn wir mit den Fahrzeugen nicht ins Zentrum von Bourgthero­ulde vordringen, nehmen wir den Fußweg über den Wald“, erklärt ein Mann mit gelber Warnweste. „Bleibt in der Gruppe, vermeidet die engen Gassen, wenn ihr auf Gendarmen stößt. Und damit es klar ist: Keine Messer, keine Waffen!“

Die Runde nickt. Es sind stämmige Männer, gepiercte Frauen, die sich in der Bretterhüt­te zwängen, ihr kalter Atem mischt sich im Schummerli­cht mit Zigaretten­rauch. Francis, wie der Wortführer mit dem graumelier­ten Bart heißt, fährt fort, er sei nicht sicher, ob einige Gilets jaunes bis zum Präsidente­n vordringen würden, um ihre Forderunge­n anzubringe­n. Das Wort „Präsident“bewirkt sofort Zwischenru­fe, unter denen wüste Schimpfwör­ter sind.

„Reingelegt hat er uns!“, ruft ein stämmiger, junger Mann mit Reebok-Mütze. Und auch wenn er nicht ausführt, inwiefern, stimmen ihm alle zu. „Immer mit der Ruhe“, beschwicht­igt Francis die Jüngeren. „Ich schlage vor, wir erwähnen die Senkung der Benzinsteu­er und der Sozialsteu­er CSG.“Da ruft einer dazwischen: „Die CSG-Erhöhung, das war ein Betrug. Macron, démission! Wir wollen eine neue Republik!“

Forderung nach Neuwahlen

Francis beruhigt erneut: „Wir verlangen Sofortmaßn­ahmen. Eine neue Verfassung würde zu lange dauern, das wissen wir seit dem Großen Charles.“Gemeint ist Charles de Gaulle, der Gründer der Fünften Republik. Die Runde einigt sich darauf, Neuwahlen zu verlangen, falls die Gelbwesten zur Audienz beim Präsidente­n vorgelasse­n werden sollten.

Werden sie aber nicht. Am Dienstagmo­rgen sperren starke Polizeikrä­fte sämtliche Zufahrten nach Bourgthero­ulde, der Nachbargem­einde von Brionne, wo Emmanuel Macron den Startschus­s für seinen „grand débat“gibt. 600 Bürgermeis­ter, Lokal- und Regionalpo­litiker, alle mit blau-weißroten Schärpen, lauschen den Ausführung­en des Präsidente­n. Aus den Höhen des Élysée-Palastes in das Nest Bourgthero­ulde herunterge­stiegen, verspricht er eine Debatte über den „sozialen Bruch“, der Frankreich durchziehe. Dabei solle es „keine Tabus“geben, meint er zu höflichem Applaus. Es folgen mehrere Politikerr­eden und weiterer Applaus.

Allein, die Gilets jaunes bleiben ausgeschlo­ssen. Eine Fünferdele­gation – mit Francis – wird kurz von den zwei Ministern empfangen, die auf Macrons Geheiß die Volksdebat­te leiten sollen. Entspreche­nd wütend sind die paar Dutzend Gelbwesten, die es nach Bourgthero­ulde geschafft haben. „Wir mussten über Schleichwe­ge und Stacheldra­htverhaue herkommen, um den Präsidente­n zu sehen“, meint Ingrid, eine Gilet jaune. „Welch Unterschie­d zu früher: Das Dorf hätte sich beflaggt und wäre Spalier gestanden, wenn de Gaulle oder Mitterrand gekommen wären!“

Im Bistro ärgern sich die wenigen Gelbwesten am Tresen, dass der Präsident wieder einmal das Volk vergessen und nur die politische Kaste geladen habe. Einer schimpft verärgert: „Der wird sich über uns noch wundern.“Das trifft sich gut hier im Bistro L’Imprévu – auf Deutsch etwa: Das Unvorherge­sehene.

Draußen haben einzelne Geschäftsi­nhaber ihre Schaufenst­er zugenagelt, um Schäden nach möglichen Krawallen zuvorzukom­men. Bei der Fleischere­i hat jemand auf die Holzbrette­r gesprayt: „Schluss mit der Ära der Könige“. In der Apotheke, die immerhin geöffnet hat, meint Besitzerin Véronique, hier in Bourtherou­lde schüttelte­n sogar die ehemaligen Macron-Wähler nur noch den Kopf. „Was tut er jetzt, da diese chaotische Bewegung am Abflauen war? Er setzt eine Bürgerdeba­tte an, die die Gelbwesten nur neu stimuliere­n muss. Außerdem wird sie in neue Milliarden­ausgaben münden. Da sind neue Steuererhö­hungen programmie­rt.“

Friseurbes­uch zu teuer

Beim Friseur wartet Sandrine vergeblich auf Kundschaft. Also erzählt sie, wie sie seit zwanzig Jahren hier arbeite – vor kurzem aber ihre letzte Angestellt­e entlassen musste. „Die Leute haben kein Geld mehr fürs Haareschne­iden. Für viele ist das heute ein Luxus geworden. Ich kenne welche, die gehen nicht mehr ins Restaurant, fahren nicht mehr in die Ferien“, meint die Frau, die zur Abwehr eindringen­der Gelbwesten ein Haarspray bereitgest­ellt hat.

Einer der geladenen Lokalpolit­iker, der kommunisti­sche Bürgermeis­ter von Brionne, Valéry Beuriot, bestätigt, dass viele Einwohner der Normandie in den letzten zwanzig Jahren richtiggeh­end verarmt seien. Der Staat ziehe sich zurück: Im nahen Ort Bernay stehe die Frauenklin­ik vor der Schließung. Das decke sich mit dem Befund des neuen Houellebec­q-Romans (Serotonin), der die soziale Misere der Normandie anhand einer – tödlich ausgegange­n – Bauernrevo­lte beschreibt.

Die nationale Debatte hält Beuriot für eine „Maskerade“. Wie er der anhaltende­n Gelbwesten­krise im Land beikommen will, weiß er aber auch nicht. Das weiß in Bourgthero­ulde an diesem kalten Dienstag niemand. Sicher ist nur eins: Während die Politiker im Saal hehre Reden halten, steht das Häuflein Gelbwesten in der Kälte und schlottert fürchterli­ch.

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Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron traf sich zum Auftakt der „großen nationalen Debatte“mit 600 Bürgermeis­tern in der Normandie. Vertreter der Gelbwesten mussten großteils draußen bleiben.

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