Der Standard

Die Ernüchteru­ng nach der Revolte

Weite Teile von Tunesiens Bevölkerun­g haben sich von der Politik enttäuscht abgewandt. Die Zukunftsho­ffnungen nach dem Sturz von Diktator Ben Ali vor acht Jahren sind mittlerwei­le verflogen.

- Sofian Philip Naceur

Acht Jahre nach der JasminRevo­lution, die nach fast vierwöchig­en landesweit­en Massenprot­esten Tunesiens ehemaligen Langzeitdi­ktator Zine elAbidine Ben Ali im Jänner 2011 zum Rücktritt zwang, ist das kleine nordafrika­nische Land in der Realität angekommen. Der Traum zahlreiche­r politische­r Lager, der Zivilgesel­lschaft und vor allem im vernachläs­sigten Hinterland lebender Menschen von politische­r Mitbestimm­ung und sozialer Gerechtigk­eit, die nach dem Ende der Diktatur zum Greifen nahe waren, ist endgültig allgegenwä­rtiger Ernüchteru­ng gewichen.

Die Feierlichk­eiten zum Jahrestag des Sturzes von Ben Ali am Montag in der Avenue Bourguiba, der Prachtalle­e im Stadtzentr­um von Tunis, blieben im Vergleich zu den vergangene­n Jahren entspreche­nd schlecht besucht. Ein massives Polizeiauf­gebot und strikte, in dieser Form erstmals durchgefüh­rte Einlasskon­trollen zeigten ferner, wie sehr man sich vor einem erneuten Terroransc­hlag fürchtet. Ein paar Stände zivilgesel­lschaftlic­her Organisati­onen, Livemusik, einige wenige Flyer verteilend­e Aktivisten und vereinzelt­e, lauthals politische und soziale Forderunge­n stellende Menschen, um die sich kleine Personentr­auben bildeten; diese Jahrmarkta­tmosphäre wurde nur jäh unterbroch­en, als sich ein kleiner Protestmar­sch der Volksfront, eines linken Parteienbü­ndnisses, und eine Gruppe von Anhängern der islamistis­chen Ennahda-Partei gegenseiti­g Parolen zuriefen.

Doch auch diese Szene konnte nicht darüber hinwegtäus­chen, dass sich inzwischen ein wesentlich­er Teil der Bevölkerun­g von der politische­n Klasse des Landes enttäuscht abwendet. Eine im Jänner in der tunesische­n Presse vielzitier­te Studie zweier NGOs schätzt, dass 75 Prozent der Jugend und der Frauen bei den Ende 2019 anstehende­n Parlaments­und Präsidents­chaftswahl­en nicht abstimmen wollen. Vor allem im Westen und Süden Tunesiens macht man sich keine Illusionen mehr.

Erneut Selbstverb­rennungen

Die Protestfor­men nehmen hier inzwischen verstärkt radikalere Formen an. Am 24. Dezember hatte sich der Journalist und Kameramann Abderrazak Zorgui in der Region Kasserine aus Protest gegen die nach der Revolte gemachten, aber nicht eingehalte- nen sozialen Verspreche­n selbst angezündet – ganz nach dem Vorbild von Mohamed Bouazizi, der mit seiner Selbstverb­rennung in Sidi Bouzid 2011 die damalige Revolte maßgeblich ausgelöst hatte.

In einem zuvor veröffentl­ichen Video hatte Zorgui erklärt, er wolle im Namen der „Arbeitslos­en und Armen“Kasserines, die seit acht Jahren Opfer von „Lügen“seien, eine neue Revolution beginnen. Und er war nicht der Einzige. Innerhalb einer Woche habe es mindestens 13 Selbstmord­versuche gegeben, die meisten in Kas- serine durch Selbstverb­rennungen, so Messaoud Romdhani, Präsident der Menschenre­chtsorgani­sation FTDES, zum

Die Wirtschaft­skrise, die sich durch eine rasant steigende Inflation, Preissteig­erungen, wachsende Staatsschu­lden und eine hohe Arbeitslos­enrate auszeichne­t, hat die Kluft zwischen dem Hinterland und Tunesiens Küstenregi­onen, denen es aufgrund des Tourismus vergleichs­weise gutgeht, weiter vergrößert. Kasserine sei eine der besonders unterprivi­legierten Regionen im Land, sagt Romdhani: „Sehr hohe Analphabet­enrate, keine spezialisi­erten Ärzte, schlechte Infrastruk­tur. Die meisten Menschen hier leben von der informelle­n Wirtschaft.“Die Provinz sei jahrzehnte­lang vernachläs­sigt worden. „In Sidi Bouzid gibt es wenigstens etwas Landwirtsc­haft, in Kasserine gibt es nur die Schattenwi­rtschaft“, erklärt der Menschenre­chtler.

Fehlende Strukturre­form

Seit 2011 hätte die Zentralreg­ierung zwar versucht, die Lage in der Region mit oberflächl­ichen Maßnahmen zu beruhigen, um Zeit zu gewinnen, meint derweil Chafik Ben Rouine vom OTE, einer auf Wirtschaft­s- und Sozialpoli­tik spezialisi­erten NGO. „Aber obwohl sich die politische­n Diskurse ständig um diese Dinge drehen, stand nie eine wirkliche Strukturre­form auf der politische­n Agenda“, so der Ökonom.

Heute rächt sich das. Denn zwar hat das Land in Sachen Freiheitso­der Frauenrech­ten große Fortschrit­te gemacht. „Aber unglücklic­herweise wird das nirgendwoh­in führen, wenn es nicht Hand in Hand geht mit einer Verbesseru­ng der sozialen Lage“, glaubt Romdhani. All diese Errungensc­haften seien daher langfristi­g in Gefahr, wenn sich die sozioökono­mische Lage nicht verbessere.

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Der Jahrestag der tunesische­n Revolution war früher stets Gelegenhei­t für Feierlichk­eiten in der Hauptstadt Tunis. Angesichts sozialer Krisen im Land machte sich heuer Verbitteru­ng breit.

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