So ein Scheibenkleister!
Forscher haben erkannt, dass geklebte Scheiben die Qualität von Traktorkabinen erhöhen. Dadurch könnte aber ein anderes Problem erst auftauchen.
Manchmal verhilft der Zufall einer Idee zur Verwirklichung. Als sich überraschend die Gelegenheit ergab, eine Traktorkabine günstig zu kaufen, nutzten die Prüfer der Bundesanstalt für Landtechnik (BLT) in Wieselburg die Gelegenheit. Außerdem handelte es sich nicht um irgendeine Kabine – das exakt gleiche Modell hatten die Ingenieure von Österreichs einziger Prüfstelle für land- und forstwirtschaftliche Zugmaschinen bereits einige Jahre zuvor am Prüfstand auf Herz und Nieren getestet. Die Ergebnisse dieser Prüfung lagen noch vor. Dadurch ergab sich nun die Möglichkeit, eine gewagte Hypothese zu testen, die schon länger in den Köpfer der Wieselburger herumgeisterte: „Wir wollten herausfinden, ob geklebte Scheiben einen Einfluss auf die Steifigkeit von Traktorkabinen haben“, erzählt BLTMitarbeiter Walter Winkler.
Steifigkeit ist eine wichtige Größe, sie definiert den Widerstand gegen Verformungen. Jede Traktorkabine ist ein Sicherheitsbauteil. Bei einem Umsturz samt seitlichem Überschlag des Traktors – das häufigste Unfallszenario dieser Fahrzeugart – muss die Stahlkonstruktion der Kabine den Energieeintrag der Kollisionen aufnehmen, darf sich dabei aber nicht so stark verformen, dass der Fahrer eingeklemmt oder auch nur berührt würde. Ob diese Bedingungen erfüllt sind, wird im Rahmen einer ROPSPrüfung (Roll Over Protective Structure) festgestellt. Dabei erfolgt mittels zweier hydraulischer Stempel ein linearer Krafteintrag auf die fest im Prüfstand eingespannte Kabine. Zuerst von hinten rechts, dann mit doppelter Fahrzeugmasse von oben, dann von vorne links, von der Fahrerseite und zuletzt noch einmal von vorne. „Herkömmliche Prüfungen werden immer ohne Scheiben durchgeführt“, sagt Winkler. „Gleichzeitig gehen Traktorhersteller immer öfter dazu über, die Scheiben einzukleben, statt sie wie bisher in die Gummidichtungen einzulegen.“Ob geklebte Scheiben Einfluss auf die Steifigkeit der Kabinenstruktur haben, ist also eine Frage von einiger Relevanz für die Praxis. Im Rahmen des vom Ministerium für Nachhaltigkeit finanzierten Projekts „ROPS – security issues“konnte sie nun beantwortet werden. Tatsächlich erhöhten die eingeklebten Scheiben im Versuch die Steifigkeit der ge- prüften Traktorkabine deutlich. Bei seitlicher Belastung um 30 Prozent, bei frontaler, rückseitiger und von oben ausgeübter Belastung nur geringfügig weniger.
Was sich wie eine gute Nachricht anhört, ist nicht unbedingt eine. Denn jede Kette hat ein schwächstes Glied. In Fall der Traktorkabine sind das die Lager. Nimmt die Kabine aufgrund ihrer erhöhten Steifigkeit die Energie bei einem Unfall nicht komplett auf, sind die Lager plötzlich die am stärksten überbelasteten Teile. Außerdem werden die Lager bei einer normgemäßen ROPS-Prüfung nicht mitgeprüft. Im schlimmsten vorstellbaren Szenario könnte es also passieren, dass bei einem Unfall die Lager versagen und die Kabine vom Traktor abreißt.
Die Erkenntnis der Wieselburger wirft deshalb Fragen für das Normenwesen auf. Soll man künftig jede Traktorkabine zweimal prüfen – einmal mit Scheiben und einmal ohne? Soll man die Lager in die Prüfung mit aufnehmen? Welche Rolle spielt der verwendete Kleber? Behält er seine Festigkeit auch bei extremen Minustemperaturen, wie sie beispielsweise bei der winterlichen Forstarbeit durchaus üblich sind? Was passiert, wenn eine der Scheiben bereits beim ersten Aufprall bricht? Ist dann die Steifigkeit der Kabine sofort reduziert? Und falls ja, in welchem Ausmaß? „All diese Fragen sind in den aktuellen Normen nicht einmal ansatzweise berücksichtigt“, kritisiert Winkler. Deshalb will die BLT ihre Erkenntnisse jetzt in die Gremien der für die Normierung von Traktorkabinen zuständigen OECD einbringen. Ob man dort auf Gehör stößt, bleibt abzuwarten. Denn OECD-Normen erfordern Einstimmigkeit der Mitgliedsstaaten.
Was passiert mit der – nach der ROPSPrüfung naturgemäß leicht deformierten – Kabine? Eine Idee dafür hat Winkler bereits. Das BLT ist eine Dienststelle des Nachhaltigkeitsministeriums, zugleich der Höheren Bundeslehr- und Forschungsanstalt (HBLFA) für Landwirtschaft, Landtechnik und Lebensmitteltechnologie eingegliedert. Gemeinsam mit seinen Schülern will Winkler einen Umsturzsimulator für Traktoren bauen. Damit können angehende Landwirte im sicheren Umfeld ausprobieren, wie es sich anfühlt, wenn man mit einem Traktor umstürzt.