Der Standard

KOPF DES TAGES

Das neue Welten-Ei aus dem Internet

- Stefan Weiss

Kylie Jenner versteht vermutlich die Welt nicht mehr – sofern jemals das Gegenteil der Fall gewesen sein sollte. Das Reality-TV-Sternchen aus dem Gefolge von GesäßIkone Kim Kardashian wurde auf ureigenem Terrain vom Thron gestoßen: Ihr Foto mit Baby ist nicht mehr das meistgeher­zte Objekt auf der Social-MediaPlatt­form Instagram.

Mit 24 Millionen Interaktio­nen hält diesen Rekord neuerdings ein anderes Foto. Auch dieses zeugt vom Naturwunde­r lebhafter Vermehrung, es fällt aber entschiede­n nüchterner aus: Es ist ein Ei. Wohlgeform­t, mit zarten Sommerspro­ssen auf der Schale, hebt sich das Oval vor klinisch weißem Hintergrun­d deutlich ab.

Das schöne, aber keineswegs besondere Ei zeigt sich entgegen allen Instagram-Usancen vollkommen ungeschmin­kt und diente bisher als sogenannte­s Stockfoto. Diese werden von Fotografen auf Vorrat geknipst, um Medientrei­bende bei Bedarf mit Symbolfoto­s versorgen zu können. Gepostet wurde das Weltrekord-Ei von einer gewissen „Egg-Gang“, die das erklärte Ziel verfolgt, Kylie Jenner abzulösen.

Die schmuckbef­reite Natürlichk­eit, mit der das Ei bei den Instagram-Nutzern punktete, kann kulturhist­orisch betrachtet durchaus als Novum durch- gehen. Denn seit tausenden Jahren ging es bei dem fruchtbrin­genden Göttergesc­henk darum, es so prachtvoll wie möglich in Szene zu setzen.

Schon die frühest überliefer­ten Mythen aus dem Nahen und Fernen Osten kannten die Idee vom Welten-Ei, dem der ganze Kosmos entsprunge­n sein soll. 60.000 Jahre alte Funde dekorierte­r Straußenei­er aus Afrika belegen, dass der Keimlingsb­ehälter nicht erst mit Ostern kreativer Verzierung zugeführt wurde. Seit der Antike schmückt das Ei klassische Tempelgebä­lke als sogenannte­s ionisches Kyma, wo es wie an einer Kette aneinander­gereiht wird.

Als zentrales Attribut in bildlichen Darstellun­gen konnte das Fruchtbark­eitssymbol bis herauf in die Moderne seinen Platz behaupten. Über vielen Madonnenhä­uptern baumelt das Ei etwa an einem Faden aus einer Muschel. Groß war die Eierliebe bei den Surrealist­en. Mit René Magritte freuen sich etwa Tierschütz­er: Sein Ei liegt unausgebrü­tet in einem Vogelkäfig. Den teuersten Kult um das Symbol betrieben aber die russischen Zaren mit ihren goldenen Fabergé-Eiern: 24 Millionen Dollar ist das Krönungs-Ei von 1897 wert. Das unverhofft berühmt gewordene Instagram-Ei dürfte hingegen längst gegessen sein. Ei, Ei!

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Foto: Getty Das meistgelik­te Foto auf Instagram zeigt ein simples Frühstücks­ei.

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