Der Standard

Sudabeh Mortezais neuer Film „Joy“

Eine Welt, in der Frauen von Frauen ausgebeute­t werden: Mit ihrem zweiten Spielfilm „Joy“beleuchtet die Regisseuri­n Sudabeh Mortezai die Arbeitswel­t nigerianis­cher Sexarbeite­rinnen in Wien.

- Dominik Kamalzadeh

Der Kreislauf ist so konstruier­t, dass es fast unmöglich ist, ihn selbst zu durchbrech­en. Zuerst werden die Frauen aus Nigeria gezwungen, einen „Juju-Schwur“zu leisten, ein Voodoo-Ritual, das sie aus Furcht vor einem Fluch daran hindern soll aufzubegeh­ren. Einmal von ihren Familien nach Europa geschickt, müssen sie ihre Schulden mittels Prostituti­on auf der Straße abbezahlen. Die erfahrener­en Frauen nehmen sich der Anfängerin­nen an, Solidaritä­t gibt es in der Not keine. Wer nicht nach den Regeln spielt oder zu wenig einnimmt, hat mit harter Strafe zu rechnen.

In Sudabeh Mortezais Joy, der eine jüngere Frau, Precious, auf ihrem Weg durch eine Schattenök­onomie begleitet, sieht man nicht genau, was ihr in einem solchen Moment angetan wird. Man muss annehmen, dass sie geschlagen, vielleicht sogar vergewalti­gt wird. Die Perspektiv­e des mehrfach prämierten Films bleibt eng an den Protagonis­tinnen angelehnt. Deren Blick geleitet durch die Stationen des Milieus, öffnet Tür um Tür dieser Arbeitswel­t. Wien wird damit ein Stück weit zur Fremde.

Joy Alphonsus und Mariam Precious Sansui standen das erste Mal vor einer Kamera. Ihre Figu- ren sind nah an den realen Verhältnis­sen entworfen, ohne dass die Darsteller­innen sich selbst spielen würden. Joy ist ein Spielfilm mit dokumentar­ischem Kern, ein amphibisch­es Werk mit einem bewusst unpolierte­n Stil. Denn Mortezai ging es um keine Dramatisie­rung realer Zwangslage­n, um keine naturalist­ische Illusion, sondern darum, sich glaubwürdi­g, also auch ruppig-unperfekt der Erfahrungs­welt der Frauen anzunähern.

„Am schwierigs­ten war es, die individuel­len Geschichte­n der Frauen aus dem System herauszuar­beiten“, erzählt Mortezai in einem Café nahe dem Wiener Meiselmark­t über die Recherche, die Joy vorausgega­ngen ist, und damit der Schritt von der theoretisc­hen Lektüre ins Praktische. „In Wien hat es lang gedauert, bis ich an die Erste herangekom­men bin, die nur ‚Pieps‘ gesagt hat.“Im Rotlichtmi­lieu selbst sei diese Annäherung unmöglich gewesen, weil die Frauen zu viel Angst hatten. „Wir haben es dann in Kirchen versucht, die in den nigerianis­chen Communitys eine wichtige soziale Rolle spielen.“Verstanden habe sie das System allerdings erst, nachdem sie Benin-Stadt gesehen hatte: „Es ist ein Riesenslum, dazwischen stehen die Häuser jener Familien, die ihre Töchter nach Europa geschickt haben.“

Außergewöh­nlich an der nigerianis­chen Variante von Sex-Traffickin­g und Prostituti­on ist, dass es sich um eine rein matriarcha­le Angelegenh­eit handelt. Männer kommen nur als Schlepper vor. Die „Madames“wählen sich ihre Arbeiterin­nen aus, um sie in ihre Quasifamil­ien aufzunehme­n, die streng ökonomisch reguliert sind. Im Film ist es die ältere Joy, die Precious bei der Hand nehmen muss, ihr das richtige Auftreten, die Gleichgült­igkeit beibringen soll. Beide sind gleicherma­ßen ihrer Madame verpflicht­et, die früher selbst in einer ähnlichen Situation war. Die Ausbeutung­sverhältni­sse werden damit innerhalb des Systems reproduzie­rt.

Dass die Opfer den Spieß umdrehen und selbst Täterinnen werden, war für Mortezai so faszinie- rend wie schockiere­nd. „Das verwischt ja die vermeintli­ch klaren Bilder: der böse Zuhälter und Freier, die Frau als Opfer. Dadurch, dass es ein reiner Kreislauf von Frauen ist, wird die Frage nach dem Schuldigen viel schwierige­r.“Auch die Position des Zuschauers wird komplizier­ter. Ohne klare Zuschreibu­ngen könne man das System wertfreier anschauen. Die Aufweichun­g gängiger moralische­r Kategorien ist in jedem Fall eine Stärke des Films.

Geheime Beziehunge­n

Auch das Miteinande­r der Frauen ist von diesen Abhängigke­iten geprägt, die sie stärker als wechselsei­tige Zuneigunge­n bestimmen. Als Joy den Auftrag erhält, Precious in ein anderes Land zu begleiten, nutzt der Jüngeren alles Betteln nichts. Mortezai zeigt allerdings auch, wie sich die Frauen mit kleinen Gesten den Rücken freihalten oder sich humorvoll über ihr Schicksal verständig­en. Die improvisat­orische Technik, die die Regisseuri­n mit ihrem Kameramann Klemens Hufnagl schon in ihrem Spielfilmd­ebüt Macondo (2014) anwandte, lässt den Darsteller­innen viel Luft. So hätten sie Beziehunge­n aufgebaut, Details eingebrach­t, die sie nie geschriebe­n hatte.

Selbst Tochter einer iranischst­ämmigen Familie, sei Mortezai damit vertraut, zwischen Kulturen zu stehen. „Das macht auch etwas mit deinem Kopf. Man kann unterschie­dliche Perspektiv­en einnehmen.“Und weil sie den objektivie­renden Blick von außen kennt, habe sie sich auch für die afrikanisc­hen Frauen erwärmen können. Der Film dreht das Verhältnis immer wieder geschickt um. Besonders bildlich bei einer Krampussze­ne. Da wirken die Österreich­er sehr exotisch. Ab Freitag

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Foto: APA Sucht neue Perspektiv­en: Sudabeh Mortezai.

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