Der ästhetische Siegeszug des Spiegelselfies
Dating-Apps sind auch Gegenstand der Kunst
Von wegen „wisch und weg“: Nicht jeder Nutzer von Tinder, Okcupid und Co verfährt bei der Selektion seiner potenziellen Liebespartner wie am Fließband für Ausschussware. Die Berliner Künstlerin Bettina Semmer hält jene Männer, die ihr in Dating-Apps begegnen, sogar für die Ewigkeit fest: Sie malt deren Profilbilder ab und versieht diese mit zitierten Anmachsprüchen.
Da ist der langhaarige Rockstar mit dem recht offenherzig zur Schau gestellten Adonisoberkörper; oder der sich intellektuell gebende Künstlertyp, der sich mit Spiegelreflexkamera und hochgezogener Augenbraue ins Bild rückt; und da sind jene, die sich schüchtern geben, obwohl ihr Begehren ausgerechnet „reiferen Frauen“gilt. Die Anmachsprüche reichen vom verhältnismäßig charmanten „Hey, können wir uns mal vereinigen“bis zum eher dreisten „Amazing body. Hope you don’t mind me masturbating over your photo“.
Der Kunstzeitschrift Monopol erklärte Bettina Semmer die Hintergründe ihres Werkzyklus: „Es ging mir um das Männerbild, das sich stark verändert. Ich sehe viele Männer, die verunsichert sind und Zweifel am alten Männerbild haben und zugleich von Notwendigkeit der Bildproduktion wissen. Das drückt sich häufig in den Bildern und den Posen darauf aus. Sie wissen gar nicht mehr so genau, wer sie sind.“
Die im Netz omnipräsenten Selfies vor dem Spiegel haben für Semmer eine vielsagende psychoanalytische Ebene: „Man kann im Netz Schichten von sich inszenieren, die man auf der Straße nicht zeigt. Insofern sind die Bilder sogar facettenreicher als alles, was man im Alltag zu sehen bekommt. Andererseits sind die Bilder zwangsläufig flach, weil jeder Mensch mehr als sein Bild ist.“