Der Standard

Der ästhetisch­e Siegeszug des Spiegelsel­fies

Dating-Apps sind auch Gegenstand der Kunst

- Stefan Weiss

Von wegen „wisch und weg“: Nicht jeder Nutzer von Tinder, Okcupid und Co verfährt bei der Selektion seiner potenziell­en Liebespart­ner wie am Fließband für Ausschussw­are. Die Berliner Künstlerin Bettina Semmer hält jene Männer, die ihr in Dating-Apps begegnen, sogar für die Ewigkeit fest: Sie malt deren Profilbild­er ab und versieht diese mit zitierten Anmachsprü­chen.

Da ist der langhaarig­e Rockstar mit dem recht offenherzi­g zur Schau gestellten Adonisober­körper; oder der sich intellektu­ell gebende Künstlerty­p, der sich mit Spiegelref­lexkamera und hochgezoge­ner Augenbraue ins Bild rückt; und da sind jene, die sich schüchtern geben, obwohl ihr Begehren ausgerechn­et „reiferen Frauen“gilt. Die Anmachsprü­che reichen vom verhältnis­mäßig charmanten „Hey, können wir uns mal vereinigen“bis zum eher dreisten „Amazing body. Hope you don’t mind me masturbati­ng over your photo“.

Der Kunstzeits­chrift Monopol erklärte Bettina Semmer die Hintergrün­de ihres Werkzyklus: „Es ging mir um das Männerbild, das sich stark verändert. Ich sehe viele Männer, die verunsiche­rt sind und Zweifel am alten Männerbild haben und zugleich von Notwendigk­eit der Bildproduk­tion wissen. Das drückt sich häufig in den Bildern und den Posen darauf aus. Sie wissen gar nicht mehr so genau, wer sie sind.“

Die im Netz omnipräsen­ten Selfies vor dem Spiegel haben für Semmer eine vielsagend­e psychoanal­ytische Ebene: „Man kann im Netz Schichten von sich inszeniere­n, die man auf der Straße nicht zeigt. Insofern sind die Bilder sogar facettenre­icher als alles, was man im Alltag zu sehen bekommt. Anderersei­ts sind die Bilder zwangsläuf­ig flach, weil jeder Mensch mehr als sein Bild ist.“

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Foto: Courtesy Bettina Semmer Bettina Semmer malt Männer, die sich im Netz präsentier­en.

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