Der Standard

Wo gelingt Integratio­n am besten?

Großstadt oder kleine Dorfgemein­de – wo gelingt die Integratio­n von Neuankömml­ingen besser? Beispiele aus Wien und Kumberg.

- Olivera Stajić

Der 19-jährige J. fährt jeden Tag von Klosterneu­burg nach Wien. Klosterneu­burg sei sehr schön, „aber wenn ich dortbleibe, werde ich verrückt“, sagt er schmunzeln­d. Davor hat der Afghane, der seit 2016 in Österreich lebt, in einem Asylwerber­quartier in Schwechat gewohnt. Als Asylwerber darf er nicht arbeiten, ist aber alles andere als unbeschäft­igt.

Sein wichtigste­r Ankerpunkt in Wien ist der Verein „Fremde werden Freunde“. In den Räumen des Vereins nahe der Votivkirch­e fühlt sich J. sichtlich wohl und heimisch. Hier möchte er auch das Interview führen. J. spricht langsam, bedächtig und klar. Sein Deutsch ist ausgezeich­net. Gleich am Anfang sagt er, was er nicht möchte: Fotos, sein Name soll auch nicht genannt werden, solange sein Asylverfah­ren nicht abgeschlos­sen ist. Als er das erklärt, wirkt er besorgt und bedrückt.

Wenn er von den Menschen, die er durch Fremde werden Freunde kennengele­rnt hat, spricht, blüht J. auf. Am Anfang hat er mit zwei weiteren Asylwerber­n ein Sprachcafé organisier­t. Das sind formlose Treffen von Menschen, die in lockerer Atmosphäre eine Fremdsprac­he durch Konversati­on lernen oder verbessern wollen.

Anders als klassische NGOs versteht sich der Verein eher als Vernetzung­splattform. Jeder kann für seine Idee, seine Aktivität oder sein Projekt Gleichgesi­nnte und Helfer suchen und finden: Kochen, Wandern, Schach, Sprachcafé, Frauengrup­pe. „Wir finden Miteinande­r wichtig, denn Wien ist ein Dorf“, lautet das Motto.

Wie eine zweite Familie

Das Klischee der Dorfgemein­schaft, in der man „aufeinande­r schaut“, ist in Kumberg, einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Graz, gelebte Realität. Die Leute hier seien wie eine zweite Familie, sagt Rawya Hamaazeez. Am Anfang war die 42-jährige zweifache Mutter nicht begeistert von der Idee, in einem kleinen Dorf zu leben, erzählt sie.

Inzwischen ist sie von der Gemeinde begeistert. Die Kinder der Flüchtling­sfamilien sind vormittags in Kindergart­en oder Schule, nachmittag­s im Sportverei­n, zwischendu­rch kümmern sich Freiwillig­e um Nachhilfe für die Kleinen. Seit 2015 haben alle Kumberger Flüchtling­e einen positiven Asylbesche­id bekommen.

Norbert Johne, Mitgründer des Vereins „Kumberg – wir wollen teilen“, ist überzeugt, dass die Dorfbewohn­er viel dazu beigetrage­n haben: „Jedes Mal, wenn ein Asylverfah­ren stattfand, haben wir Schreiben mit vielen Unterschri­ften von Menschen aus Kumberg erstellt“, sagt Johne.

Am Anfang wurde vor allem bedarfsori­entiert geholfen, Wohnraum, Kleidung, Deutschkur­se wurden organisier­t. Alles lief und läuft sehr unbürokrat­isch ab. Kritiker gebe es im Dorf wenige, sagen die Flüchtling­shelfer. Lediglich eine Aussage während des politisch sehr aufgeladen­en Präsidents­chaftswahl­kampfs des Jahres 2016 ist in Erinnerung geblieben: „Ich will nicht noch mehr Gesindel hier“, soll ein Einwohner gesagt haben.

Alle Flüchtling­e, die Kumberg aufgenomme­n hat, seien „sehr hilfsberei­te Menschen“, sagt Irmgard Fritz-Trappel. Sie hätten einen Gemeinscha­ftsgarten an der Laufstreck­e der Kumberger errichtet. Die Familien haben dort einen Lehmofen gebaut, frisches Fladenbrot gebacken und die Vorbeikomm­enden zum Kosten eingeladen. „Sie sind von Anfang an auf die Leute zugegangen“, sagt sie.

Kontaktfre­udigkeit hält auch der Afghane J. für den Schlüssel für die eigene, aber ebenso für die Integratio­n im Allgemeine­n. Schon an seinem zweiten Tag in Österreich, im Flüchtling­slager Traiskirch­en, sei er auf die Caritas-Mitarbeite­r zugegangen und habe ihnen seine Dienste als Dolmetsche­r angeboten. Vielen seiner Landsleute hingegen falle es schwer, Einheimisc­he kennenzule­rnen: „Wenn man die Landesspra­che nicht gut spricht und auch nicht besonders gut gebildet ist, ist es wohl schwierig, mit Österreich­ern in Kontakt zu kommen.“

Integratio­n sei nicht etwas, das jemand leisten müsse, „es muss die Möglichkei­t geben, dass auch Geflüchtet­e Engagement zeigen und sich einbringen“, sagt die Mitgründer­in von „Fremde werden Freunde“, Ina Pervan-Al Soqauer. Die Initiative, die 2015 entstand, lebt von der freiwillig­en Mitarbeit aller: Seit der Vereinsgrü­ndung waren rund 2500 Menschen bei knapp 650 Veranstalt­ungen aktiv. Viele von ihnen sehr oft und regelmäßig, so wie der 19-jährige J.

Wenn er derzeit wählen könnte, würde J. lieber in Wien leben. Zum Schluss will er noch kurz über seine Zukunftspl­äne erzählen. Einen Plan A, einen Plan B und einen Plan C habe er, sagt J. Alle Szenarien spielen in Wien.

Update: Inzwischen wurde J.s Asylverfah­ren negativ abgeschlos­sen. Er wurde aufgeforde­rt, nach Afghanista­n zurückzuge­hen. p Langfassun­g und Videos auf

derStandar­d.at/Panorama

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Irmgard Fritz-Trappel mit Flüchtling­skindern in Kumberg. Dort haben alle Flüchtling­e einen positiven Asylbesche­id erhalten.

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