Wo gelingt Integration am besten?
Großstadt oder kleine Dorfgemeinde – wo gelingt die Integration von Neuankömmlingen besser? Beispiele aus Wien und Kumberg.
Der 19-jährige J. fährt jeden Tag von Klosterneuburg nach Wien. Klosterneuburg sei sehr schön, „aber wenn ich dortbleibe, werde ich verrückt“, sagt er schmunzelnd. Davor hat der Afghane, der seit 2016 in Österreich lebt, in einem Asylwerberquartier in Schwechat gewohnt. Als Asylwerber darf er nicht arbeiten, ist aber alles andere als unbeschäftigt.
Sein wichtigster Ankerpunkt in Wien ist der Verein „Fremde werden Freunde“. In den Räumen des Vereins nahe der Votivkirche fühlt sich J. sichtlich wohl und heimisch. Hier möchte er auch das Interview führen. J. spricht langsam, bedächtig und klar. Sein Deutsch ist ausgezeichnet. Gleich am Anfang sagt er, was er nicht möchte: Fotos, sein Name soll auch nicht genannt werden, solange sein Asylverfahren nicht abgeschlossen ist. Als er das erklärt, wirkt er besorgt und bedrückt.
Wenn er von den Menschen, die er durch Fremde werden Freunde kennengelernt hat, spricht, blüht J. auf. Am Anfang hat er mit zwei weiteren Asylwerbern ein Sprachcafé organisiert. Das sind formlose Treffen von Menschen, die in lockerer Atmosphäre eine Fremdsprache durch Konversation lernen oder verbessern wollen.
Anders als klassische NGOs versteht sich der Verein eher als Vernetzungsplattform. Jeder kann für seine Idee, seine Aktivität oder sein Projekt Gleichgesinnte und Helfer suchen und finden: Kochen, Wandern, Schach, Sprachcafé, Frauengruppe. „Wir finden Miteinander wichtig, denn Wien ist ein Dorf“, lautet das Motto.
Wie eine zweite Familie
Das Klischee der Dorfgemeinschaft, in der man „aufeinander schaut“, ist in Kumberg, einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Graz, gelebte Realität. Die Leute hier seien wie eine zweite Familie, sagt Rawya Hamaazeez. Am Anfang war die 42-jährige zweifache Mutter nicht begeistert von der Idee, in einem kleinen Dorf zu leben, erzählt sie.
Inzwischen ist sie von der Gemeinde begeistert. Die Kinder der Flüchtlingsfamilien sind vormittags in Kindergarten oder Schule, nachmittags im Sportverein, zwischendurch kümmern sich Freiwillige um Nachhilfe für die Kleinen. Seit 2015 haben alle Kumberger Flüchtlinge einen positiven Asylbescheid bekommen.
Norbert Johne, Mitgründer des Vereins „Kumberg – wir wollen teilen“, ist überzeugt, dass die Dorfbewohner viel dazu beigetragen haben: „Jedes Mal, wenn ein Asylverfahren stattfand, haben wir Schreiben mit vielen Unterschriften von Menschen aus Kumberg erstellt“, sagt Johne.
Am Anfang wurde vor allem bedarfsorientiert geholfen, Wohnraum, Kleidung, Deutschkurse wurden organisiert. Alles lief und läuft sehr unbürokratisch ab. Kritiker gebe es im Dorf wenige, sagen die Flüchtlingshelfer. Lediglich eine Aussage während des politisch sehr aufgeladenen Präsidentschaftswahlkampfs des Jahres 2016 ist in Erinnerung geblieben: „Ich will nicht noch mehr Gesindel hier“, soll ein Einwohner gesagt haben.
Alle Flüchtlinge, die Kumberg aufgenommen hat, seien „sehr hilfsbereite Menschen“, sagt Irmgard Fritz-Trappel. Sie hätten einen Gemeinschaftsgarten an der Laufstrecke der Kumberger errichtet. Die Familien haben dort einen Lehmofen gebaut, frisches Fladenbrot gebacken und die Vorbeikommenden zum Kosten eingeladen. „Sie sind von Anfang an auf die Leute zugegangen“, sagt sie.
Kontaktfreudigkeit hält auch der Afghane J. für den Schlüssel für die eigene, aber ebenso für die Integration im Allgemeinen. Schon an seinem zweiten Tag in Österreich, im Flüchtlingslager Traiskirchen, sei er auf die Caritas-Mitarbeiter zugegangen und habe ihnen seine Dienste als Dolmetscher angeboten. Vielen seiner Landsleute hingegen falle es schwer, Einheimische kennenzulernen: „Wenn man die Landessprache nicht gut spricht und auch nicht besonders gut gebildet ist, ist es wohl schwierig, mit Österreichern in Kontakt zu kommen.“
Integration sei nicht etwas, das jemand leisten müsse, „es muss die Möglichkeit geben, dass auch Geflüchtete Engagement zeigen und sich einbringen“, sagt die Mitgründerin von „Fremde werden Freunde“, Ina Pervan-Al Soqauer. Die Initiative, die 2015 entstand, lebt von der freiwilligen Mitarbeit aller: Seit der Vereinsgründung waren rund 2500 Menschen bei knapp 650 Veranstaltungen aktiv. Viele von ihnen sehr oft und regelmäßig, so wie der 19-jährige J.
Wenn er derzeit wählen könnte, würde J. lieber in Wien leben. Zum Schluss will er noch kurz über seine Zukunftspläne erzählen. Einen Plan A, einen Plan B und einen Plan C habe er, sagt J. Alle Szenarien spielen in Wien.
Update: Inzwischen wurde J.s Asylverfahren negativ abgeschlossen. Er wurde aufgefordert, nach Afghanistan zurückzugehen. p Langfassung und Videos auf
derStandard.at/Panorama