Eine Käseplatte für den Sturmbannführer
Takis Würgers Roman „Stella“hat eine heftige Debatte ausgelöst: Das Buch erzählt die Geschichte einer Jüdin, die zur Verräterin am eigenen Volk wird. Das Dilemma ist ein ästhetisches: Darf ein Roman über die NS-Zeit derart kitschig sein?
Der Spiegel- Journalist Takis Würger (33) empfindet in Stella die verbürgte Geschichte der Berliner Jüdin Stella Goldschlag nach. Das bei Hanser verlegte Werk provoziert seit seinem Erscheinen im Jänner heftigen Widerspruch. Weil Literatur manchmal um Superlative verlegen ist, brüstet sich Würgers Roman mit dem Realitätsgehalt seines Plots. Es ist die Einmaligkeit der Naziverbrechen, die einem Erzählprojekt, das von vornherein schwächelt, zu verkaufsfördernder Verruchtheit helfen soll.
Stella Goldschlag war schuldig geworden, zahlreiche in Berlin untergetauchte Jüdinnen und Juden Anfang der 1940er-Jahre denunziert zu haben. Die überwiegende Mehrzahl der Ausgelieferten – man spricht von rund 300 Fällen – fiel der Mordmaschinerie der Nazis zum Opfer. Die besondere Perfidie liegt im Druck, der auf die Verräterin ausgeübt wurde. Goldschlag wurde gefoltert.
Im Übrigen verdingte sie sich als „Greiferin“, um ihre Eltern vor Deportation und Vernichtung zu bewahren. Vergeblich, wie sich herausstellen sollte. Goldschlag arbeitete dennoch für die Gestapo weiter, als die eigenen Angehörigen längst vergast worden waren.
Teile von Wahrheit
1994 beging Goldschlag Selbstmord. Der Autor ihrer Geschichte hält das Dilemma seines Buches gleich selbst auf dem Vorsatzblatt fest. „Teile der Geschichte sind wahr“, lässt Würger seine Leser wissen. Ein bisschen wirkt das so, als wolle er sich für die Frivolität seines Unterfangens für unzuständig erklären. Erst drei Jahre ist es her, dass sich der Hanser Verlag, in dem nun Stella erschien, geweigert hat, den neuen Roman seines britischen Erfolgsautors Martin Amis zu übersetzten. Das Buch, das im KZ Auschwitz spielt, erzählt in kalter Bosheit die Geschichte eines blauäugigen SS-Obersturmbannführers.
Schließlich erschien der Roman unter dem Titel Interessengebiet bei Kein und Aber. Die Debatte, die um das Buch entbrannte, drehte sich um die Frage, ob sich die Judenvernichtung zum beliebig nutzbaren Material eigne. Material, das sich wie im Fall Amis‘ in kühler Komik, ja, sogar mit Unterhaltungsabsicht verwerten ließe.
Lange Zeit wäre derlei undenkbar gewesen. Adornos Diktum, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben sei barbarisch, galt lange als eine Art Darstellungsverbot (zumal aus der Täterperspektive), an das sich viele hielten. Allerdings wurde es auch umgangen. Etwa von Erich Maria Remarque in seinem KZ-Roman Der Funke Leben 1952, der von Opfern und
Die Betroffenen ziehen es vor, sich von solchen Nebelgranaten nicht blenden zu lassen. Anwalt Karl Alich hat jüngst gegen Stella Strafanzeige „wegen des Verdachts der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener“beim Landgericht Berlin eingereicht. Die Rede ist von „verzerrenden Tatsachenbehauptungen“. Als Erben von Stella Goldschlags Persönlichkeitsrechten fungiert heute Birgit Kroh, Witwe von Ferdinand Kroh, einem Historiker.
Die historische Täterin war verbürgtermaßen blond und attraktiv. Auch Würger versteht es, die Figur vorteilhaft oder wenigstens gegen das Klischee ins Bild zu rücken: „Ich mochte ihre kleine Nase“, teilt der ansonsten für Nuancen eher blinde Erzähler dem Leser treuherzig mit. Anwalt Alich vergleicht die literarischen Verfahrensweisen des jungen Hanser-Autors übrigens mit denen von Rosamunde Pilcher.
Takis Würgers Kolportageroman zeichnet Goldschlags Karriere als Bettschatz eines reichen Schweizers nach. Letzterer, ein Kind wohlhabender Eltern vom Genfer See, verbringt das Jahr 1942 ausgerechnet in Berlin. Beim Aktzeichnen stechen ihm die Konturen des schönen Modells Stella (Deckname „Kristin“) sofort ins ansonsten skandalös wahrnehmungsschwache Auge.
Mit den fatalen Umständen von Stellas Libertinage – immerhin zwingen Churchills Bomber die Berliner bereits zur Verdunkelung – hält der Autor hinter dem Schuttberg. Es scheint, als ob Liebe und Verrat in den Zeiten des Nazinihilismus Würgers Stakkatoprosa mit besonders anrüchigen Wächtern eines fiktiven Konzentrationslagers handelt.
Das Buch wurde in Deutschland reserviert bis feindlich aufgenommen. Auch Peter Weiss’ Stück Die Ermittlung (1965), das Opfer- und Täteraussagen des ersten Auschwitzprozesses (ab 1963) querschneidet – bei Würger spielen reale Gerichtsakten über Stella Goldschlag ebenfalls eine Rolle – wurde oft gespielt, aber als zu eindimensional kritisiert.
Edgar Hilsenrath drehte in Der Nazi und der Friseur 1971 das Thema dann ins Groteske, indem er den sämtlichen äußerlichen antisemitischen Klischees (Hakennase etc.) entsprechenden KZ-Aufseher Schulz nach dem Krieg eine jüdische Identität annehmen und nach Israel auswandern lässt.
Es war schließlich das Jahr 1978, in dem die Serie Holocaust ausgestrahlt wurde, das die Diskussion um den Umgang mit der Vergangenheit neu lancierte. Auch in der Literatur, wo sich seither zwei Zugänge zum Thema herauskristallisieren: der naive und der zynische. Jedenfalls zeitweilig Stoffen versorgen sollen. Die Rezeption von Stella gleicht bisher einem Desaster. (
rezensierte das Buch am 18. 1. 2019.)
Einsprüche wie jüngst der von Publizist Micha Brumlik in der Zeit sind moralischer Natur. Doch wird man darum die Ästhetik von Stella schwerlich entlasten wollen. Ihr Urheber operiert mit einer besonders widerwärtigen Figur, die bereits jetzt, in den ausgehenden Zehnerjahren des 21. Jahrhunderts, ihrem eigenen Wiedergänger gleicht. Es handelt sich um die Gestalt der schönen, faszinierenden Bestie: des SS-Mannes mit leidlichem Geschmack und tadelloser Kultur.
Heimliches Zentrum
Als solcher bildet „Tristan von Appen“das heimliche Gravitationszentrum des verkorksten Romans. Von Appen, eine hochrangige SS-Charge, freundet sich nicht nur mit dem Icherzähler an. Er liebt schwarzafrikanischen Jazz und tut sich an französischem Käse gütlich. Tristan ist ein Spielzeugnazi. Er hat viel zu wenig auf dem Kerbholz, um beim „unvoreingenommenen“Leser nicht doch Sympathien zu wecken.
So wird ein schrecklicher Verdacht kitschige Gewissheit: In Gestalt des kultivierten NS-Mörders feiert der Décadent des ausgehenden 19. Jahrhunderts – schönheitstrunken, aber moralisch indifferent – sein Comeback. Was die Romane von Millennials wie Würger ästhetisch nicht mehr zu leisten imstande sind, das bürden sie jetzt ihren Bösewichten auf. naive Erzähler finden sich in Bernhard Schlinks – aus der geläuterten Retrospektive erzähltem – Roman Der Vorleser (1995) um eine analphabetische KZ-Schergin oder in Anthony Doerrs Roman Alles Licht, das wir nicht sehen (2006), in dem ein Hitlerjunge ein blindes französisches Mädchen kennenlernt. Weit umstrittener als diese Rührstücke war Thor Kunkels u. a. Jesus und Nietzsche gewidmeter Nazipornoroman Endstufe (2004), der mit seinen Kampfthesen im Gepäck „treudeutsch“voranschreitet, wie die SZ schreibt.
Noch heftiger wurde über Jonathan Littells großflächigen Roman Die Wohlgesinnten (2006) gestritten, der ebenfalls aus der Täterperspektive – diesmal der eines kunstsinnigen SS-Offiziers – erzählt wird und den Leser durch ein Meer von Blut waten lässt.
Würgers Stella ist naiv und zynisch zugleich, dabei hat der Autor, wie er in einem Interview sagt, doch nur eine fiktive Geschichte schreiben wollen, „die berührend genug ist, dass der Leser sie zu Ende liest“. (steg)