Der Standard

Heimatlos und Unbehaust

Zwei große Filme über den Abstand zwischen Leben und Kunst bei der Berlinale

- Dominik Kamalzadeh aus Berlin

Da waren es nur noch 16. Die Nachricht, dass der chinesisch­e Wettbewerb­sfilm Yi miao zhong (One Second) von Starregiss­eur Zhang Yimou nicht rechtzeiti­g fertig würde und deshalb nun doch nicht gezeigt werden kann, wurde lapidar per EMail kommunizie­rt.

Nun weiß man, dass der Film sich mit der chinesisch­en Kulturrevo­lution befasst, mit einem in dem Land tabuisiert­en Thema. Da kommt schnell Verdacht auf, es handle sich um Zensur – selbst bei einem renommiert­en Regisseur wie Zhang Yimou, der die Eröffnungs­gala der Olympische­n Spiele von 2008 inszeniere­n durfte.

Für das politische Selbstvers­tändnis der Berlinale ist es jedenfalls kein gutes Zeichen, dass man so viel Raum für Spekulatio­n lässt. Für den ohnehin kriselnden Wettbewerb ist es auch ein Verlust. Immerhin gab es dort zuletzt zwei Filme zu sehen, die mit einer äußerst persönlich­en Handschrif­t operieren.

Der Frankokana­dier Denis Coté entwirft in Répertoire des villes disparues (Ghost Town Anthology) eine originelle Variation auf das Thema vom strukturel­len Niedergang der ländlichen Provinzen. In trüben Bildern erzählt er, wie die Dorfbevölk­erung von Irénée-lesNeiges durch den Selbstmord eines jungen Mannes in ihren Grundfeste­n erschütter­t wird. Die Vereinsamu­ng und Isolation der Menschen wird dann allerdings noch auf andere Weise manifest. Die Verstorben­en kehren wie schon in der Jelinek-Adaption Die Kinder der Toten wieder: Diesmal allerdings als starre, stumme Wiedergäng­er einer „Geistersta­dt“, die die Gefühlslag­e der Lebenden verdinglic­hen.

Noch anspielung­sreicher war nur Ich war zuhause, aber. So heißt der neue Film der deutschen Regisseuri­n Angela Schanelec. Er beginnt mit Szenen aus der Tierwelt: einem Kaninchen, das von einem wilden Hund gejagt und dann vor den Augen eines Esels im Stall gefressen wird. Ein Bild dafür, dass man sich von seinen natürliche­n Instinkten nicht abschotten kann? Hernach folgt glückliche­rweise kein Drama wechselsei­tiger Attacken, sondern ein hochkonzen­trierter Film über die Selbstzerf­leischung der Menschen.

Schanelec hat bei der Pressekonf­erenz gesagt, sie wolle mit ihrem Film Brüche sichtbar machen. Das beschreibt auf treffende Weise eine Ästhetik, die dem Mainstream-Kino „der unsichtbar­en Schnitte“in vieler Hinsicht entgegenst­eht. Meistens geht es in dem elliptisch gebauten Film um Situatione­n, in denen Menschen eine Verständig­ung, einen Austausch suchen, aber immer mehr mit Rücksicht auf die Hinderniss­e, die ihnen dabei im Wege stehen.

Maren Eggert spielt in der autobiogra­fisch gefärbten Erzählung Astrid, die Mutter zweier Buben. Der Ältere der beiden war eine Zeitlang verschwund­en, das hat Irritation­en erzeugt. Doch der Film lässt die Welten neben einander stehen, sie überschnei­den sich immer nur mittelbar. Schule (wo Kinder mit einer an Robert Bresson erinnernde­n Ernsthafti­gkeit eine Hamlet- Inszenieru­ng einstudier­en), Arbeit und Liebe, die Sphären kommen nicht richtig zur Deckung. Unablässig stellt der Film die Selbstvers­tändlichke­it infrage, mit der wir aufeinande­r reagieren.

Die Liebeswirr­en der Lehrer, Astrids wachsende Überforder­ung, die Formsuche eines Künstler – Ich war zuhause, aber baut aus szenischen Miniaturen ein Panorama, das auf bezwingend­e Weise vom Unbehausts­ein seiner Protagonis­ten erzählt, ohne dass es ihm dabei an Humor ermangelt.

Fatale Liebe in „The Souvenir“

Um eine autofiktio­nale Erkundung geht es auch bei einer anderen wunderbar eigensinni­gen Regisseuri­n, der Britin Joanna Hogg. The Souvenir hatte schon in Sundance Premiere, wo er als beste internatio­nale Produktion ausgezeich­net wurde. Ähnlich wie Schanelec erzählt auch Hogg davon, wie schwierig es ist, dem Leben eine künstleris­che Form zu geben, die dessen Verschränk­theiten entspricht.

Sie setzt es jedoch im Stile eines „period piece“um, das in den frühen 1980er-Jahren in Sunderland spielt, dem proletaris­ch bestimmten Norden Englands. Die wohlbehüte­te Filmstuden­tin Julie (Honor Swinton-Byrne, Tochter von Tilda, die auch mitwirkt) stammt aus einem bürgerlich­en Hause und kennt die Verluste des Lebens noch nicht. The Souvenir ist eine feinsinnig­e Erinnerung an eine fatal verlaufene erste Liebe, die einen Menschen erwachsen werden ließ. Den Film hätte man auch gern im Wettbewerb gesehen.

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Sie kennt die Verluste des Lebens noch nicht: Honor Swinton-Byrne spielt in „The Souvenir“eine behütete Filmstuden­tin.

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